Vor kurzem hat die genossenschaftliche Finanzgruppe den Start einer umfangreichen Digitalisierungsoffensive verkündet. Mehr Omnikanal und mehr Kundenorientierung lauten die Überschriften. Doch haben die Genossen das richtige Mindset, um diese Herkulesaufgabe zu stemmen?
Am 22. Juni 2018 hat die genossenschaftliche Finanzgruppe den Startschuss für die neue Digitalisierungsoffensive gegeben. Mit einem Investitionsvolumen von 500 Millionen Euro wollen die Genossen eine Omnikanalplattform entwickeln und die Zugangswege der Kunden attraktiver und kundenfreundlicher gestalten.
Zur Zukunftssicherung der Geno-Banken und Erhaltung der Attraktivität für Mitglieder und Kunden, ebenso für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sind strategische Weiterentwicklungen an der Zielpyramide erforderlich. Durch die zunehmende Konkurrenz auf dem Bankenmarkt durch die Digitalisierung und das damit einhergehende geänderte Kundenverhalten bedarf es eines Omnikanalangebotes, in dem der Kunde seinen präferierten Kanal selbst wählen und zu jederzeit wechseln kann.
Wissensriesen und Realisierungszwerge
In der gesamten genossenschaftlichen Gruppe ist sehr viel Know-how vorhanden. Knapp 168.000 Mitarbeiter leben für die Idee „Was einer nicht schafft, schaffen viele“, der Spruch vom Gründungsvater Friedrich Wilhelm Raiffeisen ist heute aktueller denn je. Auf vielen neuen Veranstaltungsformaten wie GenoBarCamps, GENOHackathons und der Mitmachcommunity „Einfach machen“ treffen sich begeisterte Bankerinnen und Banker und diskutieren über neue Ideen und Lösungen, die das Leben unserer Kunden einfacher und besser machen. In den Veranstaltungen wird mit neue Methoden wie Design Thinking, Lego Serious Play oder Working Out Loud sehr erfolgreich gearbeitet.
Viele dieser Ideen können sich wirklich sehen lassen und haben echtes Potenzial, vom Kunden akzeptiert zu werden. Produkte wie der VR Organizer, eine APP zur sicheren digitalen Dokumentenverwaltung, oder die APP KIML „Kann ich´s mir leisten?“ sind Belege für die Innovationsfähigkeit der Gruppe. In den Konzepten zeigen wir bis zum Minimal Viable Product (MVP), dass wir in der genossenschaftlichen Gruppe echte Wissensriesen unter uns haben.
Beide Beispiele stammen bereits aus dem Jahr 2016. Bis heute haben es beide Produkte nicht über das MVP-Stadium hinausgebracht. Sind wir also doch Realisierungszwerge oder warum dauert die Umsetzung so lange? Diese Frage ist auch in der genossenschaftlichen Gruppe nicht so einfach zu beantworten und liegt in unserer Arbeitsteilung.
Das Projekt KundenFokus soll Antworten auf die Fragen zu den Kundenerwartungen an moderne Finanzdienstleister geben. In verschiedenen Initiativen, darunter auch der Initiative one & done Prozesse, wurden bereits konkrete Ergebnisse erarbeitet und zum Teil auch umgesetzt. So wurde Ende Juli 2018, nach über zweieinhalb Jahren Entwicklungszeit der one & done Prozess Neukunde/Giro für den Breiteneinsatz freigegeben. Aber erfüllt dieser Online-Prozess auch die Erwartungen unserer Kunden?
Dies erfordert ein massives Umdenken der heutigen Vorgehensweise
In der Initiative wurden viele Vorschläge für die Umsetzung des Neukunden-/Giroprozesses erarbeitet. Nicht nur die rechtliche Sicht war uns von Anfang an wichtig, sondern auch eine wirkliche Customer Experience zu schaffen. Im Verlauf der Umsetzung wurde allerdings die CE immer mehr den technischen Gegebenheiten geopfert. Wirklich revolutionär Neues ist im jetzt freigegebenen Prozess nicht übriggeblieben. Die Erkenntnisse aus der Pilotierung hätten nochmals eine teils massive Änderung an der technischen Umsetzung erfordert. Diese Ressourcen stehen aktuell aber nicht zur Verfügung oder der IT-Dienstleister ist nicht bereit, die Aufwände zu tragen.
Die Bedürfnisse und Meinungen unserer Kunden kommen in der Gruppe heute immer noch vielfach zu kurz. Echtes und breites Kundenfeedback erhalten wir aktuell zu unseren Entwicklungen nur partiell und nicht in strukturierter Form für den gesamten Entwicklungsprozess. Viele Entwicklungen werden auch „Closed Shop“ von den Produktmanagern des IT-Dienstleisters FiduciaGAD entwickelt und anschließend bereitgestellt. Gerade bei Onlineprozessen beginnt die eigentliche Iteration des Prozesses mit der Breitenfreigabe. Die Iteration findet meistens aufgrund fehlender Ressourcen nicht statt.
Lösen 500 Mio. EURO die Probleme der Genossen?
Die Genossen haben mit den freigegebenen Mitteln die echte Chance, erfolgreich neue Wege zu beschreiten. Wir müssen mutiger sein und alte Zöpfe bewusst abschneiden. Lösungen, die der Kunde nicht akzeptiert, dürfen künftig nicht weiterverfolgt werden. Dazu ist auch erforderlich, das Mindset im derzeitigen Entwicklungsprozess massiv zu ändern. Die bisherige IT-Governance muss grundlegend neu diskutiert und auf die Zukunft ausgerichtet werden. Unser IT-Dienstleister FiduciaGAD hat mit der Investitionszusage einen sehr großen Vertrauensvorschuss von den Vorständen erhalten. Wir können nur alle gemeinsam hoffen, dass jetzt auch geliefert und vollständige Transparenz über die Ergebnisse hergestellt wird. Eine zweite Chance wird die Gruppe bei den Kunden vermutlich nicht erhalten. Getreu dem Motto „Was einer nicht schafft, schaffen viele“ sind wir alle dazu aufgerufen, uns in den Prozess einzubringen.
2 Kommentare
Die in diesem lesenswerten Beitrag angesprochene Thematik adressiert einen wichtigen Aspekt. Darin zeigt sich u.a. eine strukturell bedingte Konsequenz einer dezentralen Organisation. Solange Entwicklungen weitgehend linear verlaufen, d.h. ohne disruptive Veränderungen, wie wir sie aktuell erleben, sind dezentrale Organisationen in jedem Fall stark. Wenn es aber zu disruptiven Veränderungen kommt, ist es sehr aufwändig, die ohne Zweifel vorhandenen Erkenntnisse in der Breite umzusetzen. Es dauert in der Regel lange, bis sich die neuen Modelle, Konzepte und Produkte in der erforderlichen Breite durchgesetzt haben – letztlich auch eine Folge der dezentralen unternehmerischen Freiheit.
Die Beobachtung, als Gruppe ein „Realisierungszwerg“ zu sein, ist also eine strukturelle Folge der Dezentralität.
Noch eine zweite Anmerkung. Generell lassen die neuen Ansätze des Banking Aussagen vermissen, inwieweit hierdurch Potentiale generiert werden, die geeignet sind, den Trend der abnehmender Erlöse im klassischen Retail Banking aufzuhalten oder sogar umzukehren. In Zeiten, in denen es eine Reihe neuer und z.T. sehr marktstarker Anbieter neben der etablierten Kreditwirtschaft gibt, wird ein Verdrängungswettbewerb kaum zu vermeiden sein. Dieser wird dann vermutlich zu Lasten des einen oder anderen traditionell marktstarken Instituts gehen. Was immer also von den etablierten Anbietern unternommen wird, das eigene Angebot auf ein innovatives Niveau zu heben, muss geeignet sein, den Kundenbedarf tatsächlich zu befriedigen, und rechtzeitig in der Breite platziert sein.
Vielen Dank für die Hinweise