EU: Verlust von Legitimation und Vertrauen

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Die EU verspielt das Vertrauen in den Bestandschutz ihrer Gründungsverträge. Die schleichende Kompetenzausweitung ohne demokratische Legitimation durch die nationalen Parlamente untergräbt die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Institutionen.

Vertrauen ist wichtig für den Bestand der Europäischen Union

Vertrauen ist wichtig für den Bestand der Europäischen Union.

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Die Forderungen der Deutschen Bundesbank im elektronischen EU-Verrechnungssystem „Target 2“ gegenüber anderen Notenbanken sind im Mai um rund 52 Mrd. auf 1,077 Billionen Euro gestiegen. Erstaunlicherweise findet diese massive Gefährdung des Standorts Deutschland in der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung kaum noch Beachtung.

Offensichtlich ist „Target 2“ seit seiner 2008 erfolgten Etablierung vom Zahlungsverkehrssystem zu einem – so die FAZ bereits im Jahr 2018 – „gigantischen Überziehungskreditsystem mutiert“. Es handele sich dabei um „ein verdecktes Euro-Rettungsprogramm jenseits demokratischer Kontrolle“. Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat das System schon vor Jahren als „goldene Kreditkarte“ der Schuldenländer bezeichnet. Letztlich gehe es um eine Umschuldung für die Krisenstaaten.

Sollte die Währungsunion auseinanderbrechen, seien die deutschen Forderungen de facto uneinbringlich. Auch wenn einzelne Staaten aus dem Euro austreten würden, bleibe Deutschland auf den anteiligen Verlusten sitzen. Dadurch sei die Bundesrepublik erpressbar geworden.

Absurderweise sieht das Target-Verfahren bisher keinerlei Absicherung der Verbindlichkeiten vor. Dieses naheliegende Thema ist merkwürdigerweise nie auf die Tagesordnung der EU-Institutionen gelangt. Die verschiedenen Bundesregierungen haben offenbar diesen zentralen Konstruktionsfehler nicht erkannt oder nicht erkennen wollen.

Vor dem Hintergrund dieser mittlerweile fast ausweglosen Situation bei der Target-Verschuldung hat Hans-Werner Sinn jetzt vorgeschlagen, den betroffenen Notenbanken einen Teil ihrer Target-Schulden zu erlassen und dann ein grundlegend reformiertes Eurosystem zu starten, bei dessen Konstruktion man aus den Fehlern des alten Systems lernt. Generell seien temporäre Salden bis zu 100 Mrd. zu akzeptieren. Alles, was darüber hinaus gehe, sollten die Defizit-Notenbanken durch die Hergabe von marktfähigen und nicht durch Kaufaktionen des Eurosystems gestützten Vermögenswerten tilgen. Da einige Defizit-Notenbanken über beachtliche Goldbestände verfügen, sei die Einführung einer Goldtilgung der beste Weg.

Leider dürfte auch dieser aus deutscher Sicht volkswirtschaftlich überzeugende Reformvorschlag zur Rettung dessen, was überhaupt noch zu retten ist, von der diesbezüglich wenig ambitionierten Bundesregierung nicht aufgegriffen werden. Man scheut offenbar davor zurück, sich bei den Schuldenländern unbeliebt zu machen, die sich an die Vorteile einer fiskalischen Selbstbedienung mit Hilfe der „goldenen Kreditkarte“ gewöhnt haben.

Fatale Wirkung von Negativzinsen

EZB-Chefin Lagarde hat Negativzinsen als ein „effektives Instrument der Geldpolitik“ gelobt. Sie belasteten zwar die Sparer, doch davon seien in der Eurozone nur 5 Prozent der Guthaben betroffen. In Deutschland sei der Anteil der betroffenen Einlagen allerdings doppelt so hoch, was an der höheren Sparbereitschaft der Bundesbürger liege. Dass der fatale Zangengriff von Strafzinsen und Inflation die deutschen Anleger schon in diesem Jahr um über 3 Prozent enteignen dürfte, war für Lagarde kein Thema.

Malte Fischer („Wirtschaftswoche“) untersucht in einem lesenswerten Beitrag die Wirkung von Negativzinsen als „gigantische Umverteilungsmaschine zwischen den Banken im Norden und Süden der Eurozone“. Er stützt sich dabei auf eine neue Studie, der zufolge die deutschen Institute 2020 das Gros der Belastungen zu tragen hatten, während die italienischen, spanischen und portugiesischen Banken relativ wenig geschröpft worden sind. Die Negativzinspolitik der EZB verfolgt aus Fischers Sicht die Absicht, „mit Hilfe der Geldpolitik jenseits demokratischer Legitimations- und Kontrollmechanismen Wohlstand von Nord- nach Südeuropa zu schaufeln und so die Eurozone zu einer gigantischen Umverteilungsunion umzumodeln“.

Die ultimative Machtfrage

Weil das Bundesverfassungsgericht gewagt hat, die Zulässigkeit der EZB-Anleihenkäufe anzuzweifeln, hat die EU-Kommission ein formelles Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eröffnet. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler warnt die Bundesregierung „vor einem Kuhhandel mit Brüssel“ und kündigt eine Verfassungsbeschwerde an. Die Regierung müsse diese erneute Kompetenzüberschreitung der EU-Kommission „ausnahmslos zurückweisen“. Das Bündnis Bürgerwille e.V. meint, die EU-Kommission stelle mit diesem Vertragsverletzungsverfahren „die ultimative Rechts- und Machtfrage in der EU“. Damit solle den nationalen Verfassungsgerichten die Möglichkeit genommen werden, gegen übergriffiges Verhalten von EU-Institutionen zumindest dann noch einzuschreiten, wenn davon der Identitätskern der nationalen Verfassung verletzt werde. Die vier Staats- und Verfassungsrechtler Degenhart, Horn, Kerber und Murswiek, die als Prozessvertreter beim Bundesverfassungsgericht agieren, sprechen von „einem Angriff auf die Souveränität der EU-Staaten“. Die Bundesregierung müsse die grundgesetzliche Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts uneingeschränkt verteidigen, ansonsten handele sie verfassungswidrig.

„Next Generation EU“

Ursula von der Leyen war im Juni auf Europa-Tour, um – so die FAZ – als „gütige Gabenbringerin aus Brüssel“ den Regierungen die Genehmigungen der jeweiligen Wiederaufbaupläne zu überreichen. Die FAZ merkt an: „In Wahrheit inszenierte sich von der Leyen als Wohltäterin, die all überall Geld aus ‚Europa‘, also dem EU-Aufbaufonds, verteilt.“ In Berlin ließ die Präsidentin der EU-Kommission nicht gerade überraschend wissen, es gebe grünes Licht für die deutschen Absichten. In Brüssel pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass die Pläne der Länder nicht gerade übermäßig streng geprüft worden sind. Außerdem kündigte die Präsidentin öffentlichkeitswirksam an, dass bis 2026 28,6 Mrd. Euro „nach Deutschland fließen“ werden.

Diese Botschaft werden die abendlichen „Tagesschau“-Empfänger als herzerwärmend empfunden haben. Den wenigsten Zuschauern dürfte allerdings bekannt sein, dass Deutschland zunächst über 90 Mrd. nach Brüssel überweisen muss, um dann nach einem komplizierten Verteiler die besagten 28,6 Mrd. zurückzuerhalten. Also beim besten Willen kein wirklich gutes Geschäft.

Die Bundesrepublik darf sich hier erneut als der mit Abstand größte Nettozahler engagieren. Interessant ist die Verteilung der „Wiederaufbau“-Gelder, die unter dem blumigen Motto „Next Generation EU“ erfolgt. Sicherlich kein Zufall ist, dass die notorischen Schuldenländer ganz oben auf der Empfängerliste stehen. So erhält Italien mit 191,3 Mrd. Euro mehr als das Sechsfache des deutschen Betrags. Es folgen Spanien (141,1 Mrd.), Polen (60,1 Mrd.), Frankreich (45,0 Mrd.) und Belgien (35,9 Mrd.).

Der „Focus“ kommentiert: „Den mit 750 Mrd. Euro ausgestatteten EU-Wiederaufbau-Fonds verstehen nicht alle, aber viele Länder als Einladung zur Selbstbedienung – zumal ein Gutteil der Gelder nicht zurückgezahlt werden muss.“ Und die „Südwest Presse“ stellt unter der Überschrift „Riskante Scheckbuch-Tour“ fest: „Manche EU-Staaten nutzen das Geld, um Haushaltslöcher zu stopfen. Das Vertrauen in die EU steht auf dem Spiel.“ Diese Hintergründe und Zusammenhänge fanden in den öffentlich-rechtlichen Nachrichten genau so wenig Erwähnung wie die vom Bundesrechnungshof beanstandeten, zusätzlichen Haftungsrisiken in dreistelliger Milliardenhöhe aus der gemeinsamen Corona-Schuldenaufnahme.

Auf dem Weg in die Schuldenunion

Der österreichische Finanzminister will in der EU eine „Allianz der Verantwortung“ bilden. Er sieht die Eurozone auf dem Weg in die Schuldenunion. Als strategische Partner sieht er fiskalpolitisch ähnlich gesonnene Länder wie die Niederlande sowie skandinavische und baltische Staaten. Aus Deutschland liegt allerdings noch keine Antwort auf seinen Initiativbrief vor. Blümel hofft, das Nachbarland an Bord holen zu können. „Deutschland ist eines der wichtigsten Länder in Europa und in der Euro-Zone, und was die Bundesregierung sagt, hat in Europa großes Gewicht. Deshalb werbe ich sehr bei meinen deutschen Partnern für unsere Position. Da werden jetzt schon Pflöcke eingeschlagen. Wenn Merkel jetzt die Schuldenregeln aufgibt, ist das ein schwarzer Tag für Europa.“

Der CDU-Wirtschaftsrat hat gefordert, diese Allianz zu unterstützen. Dagegen hat der deutsche Finanzminister schon vor Monaten durchblicken lassen, dass er sich die gemeinsame EU-Schuldenaufnahme auch als Dauerlösung vorstellen könne. Die Bundeskanzlerin hat es vermieden, hier im Sinne ihrer Richtlinienkompetenz eine korrigierende Position zu beziehen. Im kürzlich vorgestellten CDU-Wahlprogramm heißt es, die Partei lehne es „weiterhin ab, mitgliedsstaatliche Schulden oder Risiken zu vergemeinschaften“, obwohl genau das im Wiederaufbau-Fonds praktiziert wird. Hier offenbart sich eine politische Doppelzüngigkeit, die sich verliert im Spannungsfeld zwischen Sein und Schein, zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Im nächsten Jahr wird sich zeigen, ob das Versprechen, eine Schuldenunion zu verhindern, mehr war als ein wahltaktisches Manöver.

Über den Autor

Dietrich W. Thielenhaus

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus, der vor seinem Studium Bankerfahrung gesammelt hat, kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Geldanlage.

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