Agil um jeden Preis?

Was Agilität leistet und woran sie sich messen lassen muss

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Starre Strukturen, behäbige Prozesse, wenig Innovationskraft, disruptive Wettbewerber? Oft lautet die Lösung schlicht: Wir müssen agiler werden. Aber so einfach ist es nicht. Wer Agilität als Allheilmittel preist, fördert Mythen und Missverständnisse.

Agilität hat Grenzen und ist kein Allheilmittel

Auch das vielgepriesene Konzept der Agilität hat Grenzen und ist kein Allheilmittel.

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Agilität ist die Fähigkeit von Unternehmen, sich an eine unbeständige und ungewisse Umwelt anzupassen und auch in komplexen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen. Insofern müssten agil aufgestellte Unternehmen nun eine Stärke besitzen, diese ausspielen können. In mancher Hinsicht mag das auch stimmen.

Wer seinen Mitarbeitern bereits vor der Corona-Krise relativ große Freiräume eingeräumt hat, der tut sich wahrscheinlich weniger schwer mit dem gefühlten Kontrollverlust durch Remote-Arbeit. Überall dort, wo Teams es bereits gewohnt sind, autonom und flexibel auf veränderte Bedingungen zu reagieren, gelingt es wahrscheinlich leichter, sich auch an die aktuelle Situation anzupassen. Denkbar wäre auch, dass agil aufgestellte Unternehmen jetzt in kurzer Zeit in den Innovationsmodus schalten, um mit der Pandemie umzugehen.

Was Agilität Unternehmen in der aktuellen Krise wirklich bringt, wird sich allerdings wohl erst in der Rückschau feststellen lassen – wenn überhaupt. Die mangelnde Messbarbarkeit von Agilität als Erfolgsfaktor ist aus meiner Sicht auch einer ihrer größten Schwachpunkte. Vielleicht ist sie aber auch die Erklärung für ihren Erfolg als Management-Modethema schlechthin. In einem vom Takt der der Digitalisierung geprägten Wettbewerbsumfeld gilt Agilität ja inzwischen als Allzweck-Waffe gegen sämtliche Bedrohungen der „VUCA-Welt“. Kaum einen Konzern, der nicht mit agilen Methoden experimentiert oder agil arbeitende Ausgründungen betreibt. Vor allem Finanzinstitute ‚agilisieren‘ gerne gleich die gesamte Organisation in groß angelegten Change-Projekten. Viele dieser Bemühungen haben durchaus ihre Berechtigung, allerdings führt dieser Hype um Agilität auch zu vielerlei Missverständnissen.

Agile Methoden sind nicht immer erste Wahl

Ganz generell wird viel zu wenig unterschieden zwischen agilen Methoden (die in der Software-Entwicklung längst weit verbreitet sind), einem „agilem Mindset“ (der sich noch längst noch nicht überall durchgesetzt hat) und einer „agilen Transformation“,  die es dem gesamten Unternehmen ermöglichen soll, schneller auf Veränderungen am Markt, im Wettbewerb und den Kundenbedürfnissen zu reagieren. Selbst auf der verhältnismäßig leicht beherrschbaren Projektebene sind Denkfehler programmiert. So werden agile Methoden nicht als eine von vielen möglichen Lösungen gesehen, sondern einmal trainiert und dann krampfhaft überall angewendet – selbst da, wo sie gar nicht besonders geeignet sind.

Dahinter steckt eine völlig falsche Vorstellung von Agilität im Management. Teams bekommen konkrete Aufgaben mit starren Vorgaben und Timings, die sie mit agilen Methoden lösen sollen. Richtig wäre es, ihnen Probleme zu geben, die mit der Methode ihrer Wahl lösen können. In der Praxis beobachten wir: Agilität funktioniert relativ gut im API-Cluster, bei der Entwicklung von Apps oder Webseiten. Bei klassischen Wartungstätigkeiten, wie z.B. im Betrieb der Infrastruktur, sind agile Methoden weniger gut geeignet. Auch überall dort, wo externe Abhängigkeiten bestehen, wie zum Beispiel im Bereich Finanzinformatik, machen agile Prozesse in der Anwendungsentwicklung kaum Sinn.

Die Leistung des Systems ist nicht die Summe seiner Teile

In breit angelegten Agilitätsprojekten ist es die wohl größte Herausforderung, die Vielzahl von Interdependenzen im Blick zu behalten. Bei allen Nachteilen, von denen heute meist die Rede ist, sind klassisch-hierarchisch aufgebaute Unternehmen oft gut geölte Effizienzmaschinen, die mit wenig Reibungsverlusten punkten können. Agile Transformationsprojekte scheitern allzu oft an der schieren Komplexität der Abhängigkeiten, die es zu beachten gilt. So hilft Agilität an der Kundenschnittstelle nur, wenn auch in den nachgelagerten Prozessen schnell reagiert werden kann. Anders gesagt: Agilität am Frontend zeigt nicht den erwünschten Erfolg, wenn ein starres Release-Management dahintersteht.

Will man die Reaktionsfähigkeit der gesamten Organisation verbessern, genügt es kaum, einzelne Teams agil arbeiten zu lassen. Denn, wie schon der Organisationstheoretiker Russel L. Ackoff gelehrt hat: „Die Leistung des Gesamtsystems ist NICHT die Summe seiner Teile, sondern das Produkt seiner Interaktionen. Es geht also eher darum „Agilität zu optimieren“, die Prozesse und die Interaktionen zwischen den agileren und weniger agilen Teams so auszusteuern, dass das Gesamtsystem profitiert.

In unsicheren Zeiten ist gesunde Paranoia angebracht

Zumindest jenseits des Startup-Universums wird es wohl immer ein Nebeneinander verschiedener Welten, Geschwindigkeiten und Kulturen geben. Und das ist auch völlig in Ordnung. Versuche, auch noch die Buchhaltung oder das Controlling zu ‚agilisieren‘ könnten durchaus kontraproduktiv enden!  Entscheidend ist, dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Welten nicht aneinander vorbei agieren oder sich gar gegenseitig lähmen. Es geht also darum, Durchlässigkeit zu sichern und funktionierende Schnittstellen herzustellen. Ganz konkret kann man dafür geeigneten Menschen zwei Hüte aufsetzen und sie in dieser Doppelfunktion zu Vermittlern zwischen den verschiedenen Welten machen.

Aber Achtung: Echte Agilität beginnt nicht beim Organigramm, sondern im Kopf. Und ein agiles Mindset lässt sich durchaus auch in klassischen Organisationen etablieren. In einem unsicheren Umfeld brauchen Unternehmen vor allem erhöhte Wachsamkeit. Wenn sich Technologien, Kundenbedürfnisse und Märkte in atemberaubendem Tempo verändern, ist ein gewisses Maß an gesunder Paranoia durchaus angebracht. Es geht darum, die gesamte Organisation darauf zu trainieren, „die Flöhe husten zu hören“, Mitarbeiter zum Widerspruch zu ermutigen, den Zweifel zu fördern und eine neue Fehlerkultur zu etablieren.

Steigt jetzt der Kostendruck, muss sich Agilität neu beweisen

Digitale Technologien schaffen immer neue Möglichkeiten, die Bedürfnisse von Menschen auf andere Art zu bedienen – und verändern damit wiederum die Erwartungshaltung der Menschen radikal. Kunden warten nicht mehr, sie erwarten – und morgen erwarten sie schon wieder etwas ganz Neues. Deshalb bedeutet Agilität auch, noch konsequenter vom Kunden her zu denken. Das klingt nach einer Binsenweisheit, wird in der Praxis immer noch vernachlässigt. Dazu ein Case aus unserer Beratungspraxis: Eine Bank wollte es ihren Firmenkunden ermöglichen, Vollmachten selbstständig online zu verwalten. Es wurde also ein großes Entwicklungsprojekt aufgesetzt und mehrere Millionen Euro ausgegeben – bis irgendwann klar wurde, dass die Kunden das gar nicht selbst machen wollten. Erst durch ein agiles Vorgehen, also die Einbindung der Kunden in einem frühen Projektstadium, regelmäßige Feedback-Schleifen etc., ist letztlich eine digitale Lösung entstanden, die am Markt akzeptiert wird und gleichzeitig den Vollmachten-Prozess beim Bank-Berater deutlich verschlankt, also effizientere Prozesse ermöglicht.

Last but not least, geht es natürlich immer auch um Wirtschaftlichkeit – auch wenn wir dieses Thema in den „fetten Jahren“ ein wenig vernachlässigt haben. Auch hier kann Agilität durchaus einen Beitrag leisten, man denke nur an das Ziel, Prozesse zu verschlanken, Abstimmungs- und Freigabeschleifen zu minimieren. Wenn jetzt der Kostendruck wieder steigt, wird der Aspekt der Wirtschaftlichkeit wieder stärker in den Fokus der Entscheider rücken. Außerdem werden Themen wie Resilienz und Robustheit eine wichtige Rolle spielen. In Zukunft müssen sich alle Agilitätsvorhaben auch daran messen lassen, welche Antworten sie auf diese Herausforderungen liefern.

Über den Autor

Urs M. Krämer

Urs M. Krämer ist Chief Executive Officer bei Sopra Steria. Der Stratege und Managementberater legt sein Hauptaugenmerk auf Performance und Change Management. Der Diplom-Wirtschaftsingenieur war zuvor u.a. bei Accenture und Horváth & Partners tätig.

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