Die Corona-Krise beschleunigt die agile Transformation und die Agilisierung der Führungsebene. Wie die ING Deutschland diesen Wandel bewältig hat und welche Herausforderungen dabei zu bewältigen waren, verrät Nadine Zasadzin in einem exklusiven Interview.
Für die Impulse der VUKA-Welt gab es schon vor Corona organisationsintern häufig keine geeigneten Verarbeitungsroutinen. Disruptionen hatten schon zuvor zu einem Transformationszwang geführt und dann kam der Beschleuniger: Corona. Die Welt hat sich innerhalb kürzester Zeit verändert und wird so schnell und vielleicht nie wieder so sein wie bisher. Einschneidende Veränderungen in unsere Arbeitswelt und unser Privatleben sind teilweise wie ein Tsunami über uns hereingebrochen.
Interview mit Nadine Zasadzin, ING Deutschland
Doch wie haben agile Unternehmen in der Corona-Zeit und darüber hinaus von Agilität profitiert? Welche Erfahrungen können agile Organisationen wie die erste agile Bank in Deutschland zu ihrer agilen Transformation teilen? Wie kann Deutschland noch agiler werden?
Zu diesen Themen äußert sich Nadine Zasadzin im Interview. Sie ist bei der ING Deutschland für die Einheit Way of Working (Organisationsentwicklung und Agile Coaching) verantwortlich und leitet funktional die Agile Coaches Einheiten der ING in 12 Ländern. Bei der ING Deutschland hat sie die agile Transformation für die Produktentwicklung als Product Owner verantwortet. Bevor sie zur ING kam, war sie Texterin in Werbeagenturen und als Employee Communications Manager bei Jones Lang LaSalle tätig. Sie hat ihren Master of Science in Strategic Marketing Leadership in England absolviert, ist Public Relations Fachwirtin, Werbetexterin und Fremdsprachenkorrespondentin.
Agilität ist in erster Linie eine Frage des Mindsets
Der Bank Blog: Inwiefern hat Corona die agile Arbeitsweise der ING beeinflusst und welche Erfahrungen hat die ING mit dem agilen Arbeiten remote gemacht?
Nadine Zasadzin: Die agile Arbeitsweise hat sich mit der remote Arbeitsweise während Corona sehr gut ergänzt. Wir wurden vom Vorstand kürzlich gelobt: „Wir hätten von zu Hause nie so gut agil arbeiten können, wenn wir nicht schon vorher agil gearbeitet hätten.“ Eine Vielzahl unsere MitarbeiterInnen waren vor der Krise nicht gewöhnt mobil zu arbeiten. Von heute auf morgen konnten jedoch fast alle MitarbeiterInnen von Zuhause aus arbeiten. Zudem haben die etablieren agilen Routinen diese Zeit unterstützt.
Auch die, die noch nicht vollständig auf Agilität umgeschwenkt hatten, führten Daily Standups ein und haben schnell den Mehrwert erkannt. Zudem wurden die Zusammenarbeit und Kommunikation zu dieser Zeit intensiviert. Insgesamt stieg die Effizienz in Terminen im ganzen Unternehmen.
Der Bank Blog: Welches Lessons Learned können Sie Unternehmen geben, die sich auf eine ähnliche agile Transformations-Reise begeben wollen?
Nadine Zasadzin: Agilität ist ja nicht nur eine Methode oder Struktur, sondern in erster Linie ein Mindset. Wichtig ist deshalb von Beginn der Transformation an Agile Mindset Trainings und Leadership-Coachings durchzuführen. Hierzu eignen sich zum Beispiel die Management 3.0 Methoden. Aus unserer Erfahrung reicht es ebenfalls nicht, nur auf Team- und Mitarbeiterebene agile Routinen und Prinzipien einzuführen, den Vorstand regelmäßig darüber zu informieren und Verbesserungsvorschläge von der Führungsebene einzuholen. Wir leben das agile Mindset auf allen Ebenen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Corona Pandemie das Leben des agilen Mindset auf allen Ebenen inkl. der Führungsebene für viele Organisationen nochmal beschleunigt.
Menschen befähigen selbständig Entscheidungen zu treffen
Der Bank Blog: Die Verankerung der agilen Kultur, das Mindset war laut unserer Studie dem Agile Pulse 2019 und dem Agile Pulse 2020 die größte Herausforderung der agilen Transformation. Was waren für die ING die größten Herausforderungen bei der agilen Transformation?
Nadine Zasadzin: Mindset, Mindset, Mindset. Viele KollegInnen können das Wort schon nicht mehr hören, da es sich über die Zeit abgenutzt hat (lacht). Aber es ist leider die größte Herausforderung. Für die Kollegen, die schon lange in klassischen Organisationsformen gearbeitet haben, stellt es die größte Herausforderung dar. Da dauert es schonmal zwei Jahre, bis das Mindset anfängt sich umzustellen.
Eine zweite Herausforderung ist die IT-Infrastruktur. Hierbei kann es problematisch werden, wenn ein Squad keine end-to-end Verantwortung und Bereitstellung für den Kunden gewährleisten kann und es weitere Abhängigkeiten sowie Schnittstellen gibt.
Der Bank Blog: Woran arbeitet die ING derzeit, um die agile Reife noch weiter zu erhöhen und welchen Herausforderungen steht die ING bezüglich der agilen Transformation aktuell gegenüber?
Nadine Zasadzin: Bezugnehmend auf den BearingPoint 3D© Ansatz (Dance, Define, Develop) für agile Transformationen befinden wir uns in der dritten, der Develop-Phase. Ich könnte jeden einzeln aufgeführten Punkt aus diesem Ansatz unterstreichen: Einführung von OKR (Objektives und Key Results) und die damit verbundene Begeisterung, Management 3.0, die Menschen befähigen selbständig Entscheidungen zu treffen und zu tragen sowie all die anderen Punkte.
Den Bereich Wissensvermittlung in der Dance-Phase, also die Erklärung von Scrum und Kanban inklusive der Anwendung, ist abgeschlossen. Wir arbeiten aktuell daran, die einzelnen agilen Methoden anzupassen und Skalierung zu erweitern. Oft stellen wir uns die Fragen wie kann der Aufwand messbar gemacht werden und wie können wir Prozesse weiter optimieren und Lean-Elemente einbringen? Zudem arbeiten wir daran, dass wir Kunden vermehrt nach ihren Bedürfnissen fragen und weniger Annahmen aufstellen. Auch vermindern wir die Abhängigkeiten der IT-Infrastruktur.
Die Einnahme der Kundensicht ist eine besondere Herausforderung
Der Bank Blog: Welche Erfahrungen hat die ING mit dem Einsatz von Objektives und Key Results (OKR) gemacht?
Nadine Zasadzin: Der Vorstand gibt Prioritäten vor und daraus leiten sich die Objektives ab. Die OKRs werden in Bezug zu den Bereichen gesetzt, bei denen verschiedene Ausprägungen gegeben sind. An einer vollständigen Kopplung von den Bankzielen zu OKRs und den Boards sowie einem größeren Alignment wird aktuell gearbeitet. Eine Verzögerung entstand dadurch, dass wir OKRs nicht von Anfang in Rahmen der agilen Transformation verwendet haben.
Der Bank Blog: In der Agilität soll der Kunde im Mittelpunkt stehen. Auch die ING arbeitet daran. Wie stellt die ING Kundenbedürfnisse an die oberste Stelle?
Nadine Zasadzin: Wir tun es in erste Linie bei großen Innovationsprojekten mit einer eigens von uns entwickelten Methode, die sich PACE nennt. Diese Methode basierte auf dem Design Thinking Ansatz und wird durch verschiedene andere Methoden (Customer Journey, Solution & Problemfit Workshops etc.) ergänzt. Im Daily Business ist es aber durchaus immer noch eine Herausforderung die Kundenmeinung konstant abzufragen. Besonders bei Prozessen oder Produkten, die schon lange etabliert sind, ist es schwierig diese aus Kundensicht zu betrachten.
Die Transparenz wird auf allen Ebenen verbessert
Der Bank Blog: Agile Transformationen führen zu höherem Geschäftserfolg. Welche messbaren Veränderungen hat die ING durch die agile Transformation erzielt?
Nadine Zasadzin: Das wollen alle Unternehmen wissen, aber in dieser Form haben wir keine KPIs (lacht). Direkt nach der Transformation ist die Mitarbeiterzufriedenheit gefallen und seit 2019 erstmalig gestiegen. Allerdings ist die Zufriedenheit noch nicht auf dem Niveau vor der Transformation. Das ist auch erwartet worden und nachvollziehbar gewesen, da Veränderungen häufig zunächst zu einer Verschlechterung beitragen. Allerdings hat sich die Transparenz auf allen Ebenen verbessert, sodass Probleme sichtbarer sind, wodurch auch mehr Frustpotential entsteht. Die Anzahl an negativen Punkten vor und nach der Transformation ist identisch, allerdings werden sie jetzt öffentlich und können nicht beschönigt werden.
In der Produktentwicklung haben wir deutlich an Geschwindigkeit gewonnen und können teilweise auch experimentelle Dinge ausprobieren. Das folgende Beispiel nenne ich gerne: Wir haben es innerhalb von 4 Monaten nach der agilen Transformation geschafft in der Baufinanzierung eine Zinsbindung für 20 Jahre einzuführen, obwohl das 10 Jahre zuvor nicht möglich war. Das hat u.a. funktioniert, weil die KollegInnen deutlich mehr untereinander kommunizieren und das Verständnis füreinander gestiegen ist.
Regulatorik-Transformation-Squad für mehr Agilität
Der Bank Blog: Gerade Banken sehen in einer agilen Organisation bei der Erfüllung der regulatorischen Anforderungen Herausforderungen. Wie ist die ING diesen begegnet?
Nadine Zasadzin: Mit der agilen Transformation wurde auch ein Regulatorik-Transformation-Squad gegründet, der sich aus acht regulatorischen Einheiten der Bank zusammengesetzt hat. Das schaffte eine unternehmensweite Transparenz für die regulatorischen Anforderungen. Das war ein positives Statement. Während der agilen Transformation wurde jede Führungskraft auf Tribe-Lead-Ebene gebeten die Aufgaben mit den regulatorischen Anforderungen abzugleichen und zu kontrollieren und dazu Stellung zu nehmen.
Der Bank Blog: Welche Fragen werden der ING von Unternehmen am häufigsten gestellt und was ist die Antwort der ING darauf?
Nadine Zasadzin: Die Fragen lauteten:
- Was ist das größte Learning
- Was sind die größten Fehler?
- Und in Verbindung dessen, was würde ihr anders machen, wenn ihr die Transformation noch mal machen würdet?
Wir haben 18 Monate für die agile Transformation gebraucht – gemessen vom Start der Planung bis hin zur Reorganisation der Einheiten. Währenddessen herrschten viele Unsicherheiten in den Teams. Manche KollegInnen mussten zu lange auf den Start der Veränderung warten. Ein Grund war, dass die agile Transformation iterativ durchgeführt wurde. Das würde ich weiterhin so planen, allerdings müsste der Prozess beschleunigt werden. Wir hätten dabei auch eine echte agile Zusammenarbeit mit den Betriebsräten einführen sollen. Dazu hätten ein oder zwei Betriebsratsmitglieder in das Transformationsteam mit aufgenommen werden sollen, um arbeitsschutzrechtliche Bedenken schneller aus dem Weg zu räumen.
Agilität sollte schon im Kindergarten beginnen
Der Bank Blog: Welche Branchen sind an einem Austausch mit der ING besonders interessiert?
Nadine Zasadzin: Wir hatten einen bunten Mix an Interessenten: andere Banken, Versicherungsunternehmen, Automobilhersteller, diverse Unternehmen aus der Produktion, ein Schreibwarenhersteller, Lebensmittelhersteller, auch ein Käsehersteller oder die Hotellerie. Besonders mit dem Unternehmen Bosch, hatten wir einen sehr guten Sparringspartner. Auch treten wir in Kontakt mit vielen Universitäten.
Der Bank Blog: Wie ist Ihr Eindruck, wird Agilität in der Universität ausreichend gelehrt?
Nadine Zasadzin: Wenn ich es bestimmen könnte, würde ich als Lehrerin in der Grundschule schon agile Prinzipien lehren, am besten schon im Kindergarten, jeden Morgen ein Stand-up. Allerdings wurde ich auch schon von einigen Grundschullehrern/innen befragt, wie man agile Routinen in die Klassen bringen kann, da sie gemerkt haben, dass auch durch Kommunikation Zusammenhalt gestärkt werden kann. Gerade über diese Methodik wurden interne Streitigkeiten in den Klassen geklärt.
Der Bank Blog: Vielen Dank für das Gespräch.