Koalitionsverträge sind meist theorielastig. Herausforderungen entstehen bei der Umsetzung politischer Schnittmengen in die Realität. Das betrifft insbesondere die aktuellen wirtschafts- und finanzpolitischen Baustellen. Die neue Regierung sucht noch ihren Kompass.
Mit einem BIP-Wachstum um 2,7 Prozent ist Deutschland 2021 deutlich unter den Anfang des Jahres veröffentlichten Prognosen geblieben. Damit konnte der pandemiebedingte Einbruch um 4,6 Prozent in 2020 im vergangenen Jahr nicht ausgeglichen werden. Sorge bereitet die Tatsache, dass die Wirtschaft im vierten Quartal mit einem Minus von 0,5 bis 1,0 Prozent erneut auf Schrumpfkurs gegangen ist. Dieser rezessive Trend dürfte in den nächsten Monaten anhalten.
Bemerkenswerterweise hinkte die Bundesrepublik beim Wachstum anderen europäischen Industrienationen weit hinterher. So haben Frankreich (+6,5 Prozent) und Italien (+6,2 Prozent) 2021 mehr als doppelt so stark zugelegt wie die Bundesrepublik. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Länder wesentlich massiver von der Rezession in 2020 betroffen waren. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Frankreich und Großbritannien ihr konjunkturelles Vorkrisenniveau schon im vergangenen Jahr wieder erreicht haben. Dass Deutschland noch nicht so weit ist, liegt nach ifo-Analyse am Verarbeitenden Gewerbe. Die deutsche Industrie leide stärker unter den Lieferketten-Problemen. Außerdem sei der Anteil des Verarbeitenden Gewerbes am BIP mit rund 20 Prozent doppelt so groß wie in Großbritannien und Frankreich.
Kein „Post-Corona-Boom“
Offenbar braucht Deutschland mehr Zeit als andere Länder, um die wirtschaftlichen Folgen von Corona zu überwinden. Nicht absehbar ist derzeit das Ausmaß der von der Politik für notwendig gehaltenen Omikron-Beschränkungen. Selbst bei einem „Lockdown light“ würde das BIP in diesem Jahr – nach Einschätzung des Instituts der Deutschen Wirtschaft – um bis zu 50 Mrd. Euro niedriger ausfallen als in „normalen“ Zeiten
Als zweite erhebliche Belastung wirkt das anhaltende Problem der Lieferengpässe. Trotz oft voller Auftragsbücher stellt sich der BDI auf ein „Stop-and-go-Jahr“ ein. Zahlreiche Unternehmen der Automobil-, Elektro- und Maschinenbauindustrie leiden unter bedrohlichen Lieferengpässen, die sich als Umsatzbremse erweisen. Der BDI schätzt den Verlust der industriellen Wertschöpfung für 2021 und 2022 auf jeweils über 50 Mrd. Euro. Nach Meinung des Verbands wird der Mangel an Mikrochips, Bauteilen und Rohstoffen die Produktion noch längere Zeit einschränken. Gleichwohl blicke man „mit verhaltener Zuversicht“ auf die wirtschaftliche Erholung. Der BDI erwartet für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum um 3,5 Prozent und einen Anstieg des Exports um 4 Prozent. Die Industrieproduktion soll um 4,5 Prozent zulegen.
Damit läge das Produktionsniveau allerdings immer noch rund 6 Prozent unter dem Level von 2018, weil die Produktion schon 2019, also vor Corona, rückläufig gewesen sei. Selten sei ein Jahresausblick mit so viel Unsicherheit behaftet worden. Der erhoffte „Post-Corona-Boom“ bleibe aus. Die konjunkturelle Erholung werde sich bestenfalls bis zum Sommer hinauszögern.
Firmen in Not
Fast jedes siebte Unternehmen in Deutschland sieht sich durch die Folgen der Pandemie in seiner Existenz bedroht. Das hat eine im Dezember 2021 durchgeführte ifo-Umfrage ergeben. Der Anteil ist im Vergleich zur letzten Erhebung im Juni 2021 unverändert hoch geblieben. Die höchste Bedrohung empfindet der Dienstleistungsbereich. Am stärksten gefährdet sehen sich Reisebüros und -veranstalter mit 73,2 Prozent und die Veranstaltungsbranche mit 67,4 Prozent. Im Verarbeitenden Gewerbe liegt der Durchschnittswert bei 5,7 Prozent. Aber auch hier sieht jeder fünfte Hersteller von Bekleidung und Druckerzeugnissen schwarz für seine betriebliche Zukunft.
Gleichwohl ist die befürchtete Insolvenzwelle bisher in Deutschland ausgeblieben, was vor allem auf die Verfügbarkeit von staatlichen Überbrückungshilfen für notleidende Unternehmen zurückzuführen sein dürfte. Sollte dieses Hilfsprogramm – wie vom Bundesfinanzminister angekündigt – schon bald auslaufen, dürfte sich dies 2022 in einer heftigen Pleitewelle entladen.
Inflation ante portas
Die deutsche Inflationsrate lag 2021 im Jahresdurchschnitt bei 3,1 Prozent. Einen stärkeren Preisanstieg hat es zuletzt 1993 mit damals 4,5 Prozent gegeben. Als besorgniserregend erweist sich der stark steigende Trend im Jahresverlauf. So lag die Geldentwertung im Dezember 2021 5,3 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Auch im Euro-Raum ist die Inflation im Dezember mit durchschnittlich 5,0 Prozent auf ein Rekordhoch gestiegen, was der höchsten Teuerungsrate seit der Euro-Einführung entspricht.
Damit bewegt sich Deutschland bei der Geldentwertung derzeit im oberen Mittelfeld der Euro-Länder. Für das laufende Jahr rechnen die Ökonomen mit einer Fortsetzung der Inflation oberhalb der 3Prozent-Marke. Die Prognosen der Forschungsinstitute liegen zwischen 3,1 und 3,3 Prozent, also fast auf Höhe der erwarteten BIP-Zuwächse. Die Deutsche Bundesbank rechnet sogar mit 3,6 Prozent. Die für ihre politischen Beschwichtigungsversuche bekannte EZB erwartet mittlerweile für den Euro-Raum in 2022 eine Aufweichung der Gemeinschaftswährung um 3,2 Prozent.
„Lohn-Preis-Spirale“
Wesentlich weniger entspannt sieht der Top-Ökonom Hans-Werner Sinn die aktuelle Entwicklung. Er fordert die Bundesregierung in einem Interview zur Intervention bei der EZB auf. Das „Feuer der Inflation“ müsse man sofort austreten. Die Pläne der neuen Bundesregierung für Mindestlohn und Energiewende seien geeignet, die Preisspirale weiter zu beschleunigen. Der frühere ifo-Chef warnt vor einer langanhaltenden Inflationswelle. Noch stecke Deutschland in der ersten Welle, die zwar ein wenig abklingen werde, aber auch Ausgangspunkt für die zweite Welle sein werde. Wenn die EZB nicht bei der Zinspolitik mit Amerika gleichziehe, ergebe sich eine Zinsdifferenz zwischen den USA und Europa. Dann werde der Dollar gegenüber dem Euro aufwerten, was auch noch eine importierte Inflation im Euro-Raum auslöse. Sinn weiter: „Deutschland muss seiner Verantwortung gegenüber der Stabilität der Gesellschaft und der Geschichte gerecht werden.
Die Europäische Zentralbank zögert und redet das Problem klein. Tatsächlich hat die EZB kein wirkliches Interesse an stabilen Preisen.“ Mit Blick auf die Pläne der Bundesregierung warnt Sinn: „Nun kommen weitere Inflationstreiber wie die Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland um etwa 25 Prozent hinzu. Wegen der nötigen Lohnabstände wird dadurch die ganze Lohn-Skala nach oben geschoben. Die Gehälter steigen also insgesamt an, und die Firmen geben den Kostendruck an die Verbraucher weiter.“ Damit komme eine Lohn-Preis-Spirale in Gang. Auch die Beschleunigung der Energiewende wirke sich auf die Preisentwicklung aus. „Das wird ein gewaltiger Kostentreiber für die Wirtschaft und befeuert die Inflation.“
EZB auf Abwegen
Die EZB lebt offensichtlich in einer von Wunschdenken und Realitätsverlust geprägten Scheinwelt. Würden sich die Euro-Banker an volkswirtschaftlichen Grundregeln orientieren, müssten sie angesichts der infolge der explodierenden Energiepreise deutlich anziehenden Inflationsraten auf die Preisbremse treten und die Leitzinsen erhöhen. Einen solchen Schritt hat Lagarde jedoch frühestens für 2023 in Aussicht gestellt. Begründet wird diese Funktionsverweigerung mit der fiktiven Behauptung, dass die Inflationsrate auch ohne Gegensteuern auf den Zielwert von 2 Prozent zurückfallen werde.
Tatsächlich lässt sich die EZB-Führung vorrangig von der Erkenntnis leiten, dass Zinserhöhungen in den europäischen Schuldenländern zu politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen führen könnten. Da scheint man selbst eigentlich unvertretbare Inflationsraten als das kleinere Übel billigend in Kauf zu nehmen. Damit entledigt sich die EZB faktisch der Wahrnehmung ihrer originären Aufgabe, der Sicherung der Preisniveaustabilität.
Abzuwarten bleibt, ob der neue Bundesbankpräsident seiner Ankündigung, er werde die Stabilitätspolitik seines Vorgängers fortsetzen, Taten folgen lässt. Sicherlich nicht ohne Grund hat der freiwillig zurückgetretene Jens Weidemann darauf hingewiesen, dass die Inflation auf Höchstwerte seit Gründung der Währungsunion geklettert sei. Wie eine Art von Vermächtnis forderte er bei der Amtsübergabe, dass die Notenbank ihr Ziel der Geldwertstabilität nun ohne Abstriche verfolgen müsse – insbesondere ohne Rücksicht auf die Finanzierungskosten der Staaten.
Hightech: Asien auf dem Vormarsch
Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ist in den letzten Jahren immer weiter belastet worden. Defizite bei Digitalisierung und Infrastruktur, hohe Energiekosten sowie Nachteile bei Steuern, Personal- und Sozialkosten haben die Anziehungskraft für Investoren nicht gerade erhöht.
Zu welchen globalen Verlagerungen unzureichende Standortpflege führen kann, zeigt eine bemerkenswerte neue Studie der Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (GTAI). Hier die wesentlichen Ergebnisse: Sieben der zehn größten Exportnationen von Hochtechnologie kommen aus Asien. China führt mit Abstand. Deutschland und die USA verlieren Marktanteile. Unter den bedeutendsten Exportländern von Hightech-Erzeugnissen belegte China 2020 mit einem Anteil von nahezu einem Viertel an den entsprechenden Ausfuhren Rang 1 (Anteil von 23,8 Prozent). Erst mit deutlichem Abstand folgten die USA (7,1 Prozent) und Taiwan (6 Prozent). Deutschland belegte mit einem Anteil von 5,6 Prozent Rang 4, gefolgt von Südkorea (5 Prozent). Aus der Europäischen Union ist neben Deutschland lediglich Frankreich auf Platz 10 vertreten. Auf die Region Asien-Pazifik entfiel 2020 mit fast zwei Dritteln somit der Großteil der weltweiten Ausfuhren von Hochtechnologie.
Zu hoffen bleibt, dass die neue Ampel-Koalition die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit als zentrale Zukunftsaufgabe versteht. Andernfalls besteht die reale Gefahr, dass Deutschland irgendwann beim nationalen Klimaschutz führend sein wird und darüber seine Führungsposition als Industrienation verloren hat.