Trading-Apps und Neobroker ziehen so manchen unerfahrenen Neuanleger in das spielerische Zocken hinein. Verkommt die Geldanlage zum Spielcasino? Die Entwicklung ist kritisch zu betrachten, aber sie hat auch positive Nebeneffekte.
Die Digitalisierung erfasst zunehmend alle Bereiche unseres täglichen Lebens. Das Smartphone ist die zentrale Steuereinheit unseres Daseins: Kommunizieren, recherchieren, einkaufen, bezahlen, ausweisen, Auto, Haus, Musik steuern, sich navigieren oder anleiten lassen und tausenderlei mehr. Und natürlich: zocken (moderater ausgedrückt: spielen). Das Spielerische haben wir uns mit der Kindheit bewahrt. Inspiriert durch die exorbitanten Erfolge der Gaming-Industrie versuchen viele Anbieter anderer Anwendungen, ihrem Angebot einen spielerischen Aspekt hinzuzufügen. Die Hoffnung: den Erfolg durch einen gewissen Suchtfaktor erheblich zu steigern.
Was hat das nun mit Börse und Kapitalmarkt zu tun? Seit einigen Jahren sind die Neobroker am Markt, die zu extrem günstigen Transaktionskosten Wertpapierdepots anbieten. Fast alle Arten von Wertpapieren lassen sich hier kaufen, darunter Aktien, Anleihen, Derivate. Großflächige, omnipräsente Anzeigenkampagnen machen auf die Angebote aufmerksam. So konnten die Neobroker in Deutschland in diesem Jahr Zehntausende neue Kunden gewinnen.
Neobroker auf Erfolgskurs?
Der Erfolg lässt sich mittels drei einfacher Faktoren begründen.
- Angesprochen wird eine junge Zielgruppe, die Digital Natives. Depots können schlank und kostenlos eröffnet werden, die Folgekosten sind scheinbar gering.
- Mit Revoluzzer-Marketing wird suggeriert, es den großen, alten, teuren Banken zu zeigen und das Wertpapier-Trading zu demokratisieren. Robinhood und Trade Republic sind die passenden Namen dafür.
- Seit dem Crash in der großen Finanzkrise 2008 verzeichnen wir fast ununterbrochen steigende Börsenkurse. Somit weisen viele Aktien und Portfolios in diesem Zeitraum teils unglaubliche Gewinne von mehreren hundert Prozent aus. Es war eine sichere Bank, auf Digitalisierungsgewinner wie die sogenannten FAANG-Aktien (Facebook, Amazon, Apple, Netflix und Google) zu setzen. Auch Aktien aus der zweiten Reihe stiegen, und diese „Geheimtipps“ machen auf sozialen Netzwerken die Runde.
Traum vom schnellen Reichtum an der Börse
Der vielfach gehegte vom schnellen Reichtum an der Börse kann scheinbar in Erfüllung gehen. Erinnerungen an den Neuen Markt werden wach. Doch das Gedächtnis der Anleger ist kurz und Risiken werden verdrängt. Also fix online ein Depot eröffnen, Geld transferieren und los geht’s. Die ersten Aktien sind gekauft. Nun die zweite Phase: Beobachten, Charts analysieren, Research lesen, Geheimtipps aus den Social- Media-Kanälen abgreifen.
Praktisch dazu ist der weitere Kernservice der Neobroker: Die passende Trading-App wird bei Depoteröffnung gleich mitgeliefert. So kann man auf einer spektakulären Oberfläche möglichst in Echtzeit den Kursen folgen und die heißesten Tipps handeln. Hier wird übrigens eine Parallele zum Spielautomaten sichtbar: Das eingezahlte Geld verliert seinen substanziellen Wert und wird virtualisiert. Es ist lediglich Mittel zum Zweck, das Spiel am Laufen zu halten. Kaufen und verkaufen, gewinnen und verlieren geht per Klick wahnsinnig schnell.
Trading als Sucht
Das Adrenalin strömt. Hat man mal verloren, kommt die nächste Verlockung, um schnell wieder aufzuholen. Es lockt das klassische „doppelt oder nichts“. Der Kapitalmarkt hält die passenden Instrumente bereit, etwa Hebelzertifikate, mit denen man beispielsweise eine Bewegung im DAX locker um das Hundertfache verstärken kann.
Wie ist diese Entwicklung zu beurteilen? Dass ein Preiskampf zwischen den Banken hinsichtlich Abwicklungsgebühren gestartet wurde und die Kosten tendenziell sinken, ist positiv. Hingegen trübt die geringe Kostentransparenz die Freude. Der angeblichen Null-Euro- Trading-Gebühr, die viele Anbieter suggerieren, werden die beim Börsenhandel anfallenden Spesen und Aufschläge aufaddiert, die der Kunde zahlt und dem Anbieter gutgeschrieben werden.
Das sind die klassischen Kickbacks (Rückvergütungen), auf die die Bankenaufsicht seit Langem allergisch reagiert, weshalb das System Neobroker zusehends auf den Prüfstand gestellt wird. Eine Transparenzoffensive und gleichzeitig Konsolidierung im Markt steht also an.
Neue Zielgruppen dank Gamification
Positiv ist zu verbuchen, dass sich viele, meist junge Menschen durch diese Entwicklung erstmals mit dem Kapitalmarkt beschäftigen. Aktieninvestitionen sind absolut sinnvoll, denn eine private Vorsorge ist bei der Entwicklung der Renten unabdingbar. Allerdings hat diese Art von Gaming nichts mit einer vernünftigen Kapitalanlage zu tun. Das ist reine Zockerei.
Bleibender Erfolg am Kapitalmarkt kann nur durch Langfristigkeit und vernünftig gestreute Investments in gute Titel erzielt werden, zudem gegebenenfalls noch begrenzt bei eintretenden Verlusten. Daran hat sich nichts geändert. Der Suchtfaktor ist allerdings nicht vernachlässigbar. Viel zu schnell kann eine Menge Geld zunichte gemacht werden.
Es bleibt zu hoffen, dass eine solche unbedachte Spielerei am Kapitalmarkt zu keinem finanziellen Totalschaden führt und dass der Anleger sein Handeln reflektiert. Eventuell entdeckt er dann die Welt der qualifizierten Investmentberater und Investmentfonds (die über Trading-Plattformen übrigens nicht zu kaufen sind, weil sich mit ihnen keine interne Provision verdienen lässt). Dann kann er mit einer sinnvollen und erfolgversprechenden Kapitalanlage starten.
Der Beitrag erschien ursprünglich als Teil des Jahrbuchs 2021/22 des Vereins Finanzplatz Hamburg e.V.. Das Jahrbuch können Sie hier direkt herunterladen.