Welche Folgen wird die Brexit-Abstimmung der Briten am 23. Juni für die EU haben? Die Auswirkungen könnten überschaubarer bleiben als gedacht. In jedem Fall wird es ein gewaltiges Rauschen im Medienwald geben und ein Fest für Spekulanten.
Am 23. Juni werden die Bürger Großbritanniens darüber abstimmen, ob sie auch weiterhin ein Teil der Europäischen Gemeinschaft bleiben wollen. Welche Auswirkungen ein solcher Schritt haben könnte, darüber streiten die Experten. Ein abruptes Ende des Wirtschaftswachstums wird vorausgesagt, Jobverluste auf der Insel genauso wie eine langsam aber stetig fortschreitende Erosion der Rest-EU. Wie auch immer das Referendum ausgehen wird, eines steht bereits fest: Rund um den 23. Juni schlägt die große Stunde der Spekulanten. Das Wettbüro ist eröffnet.
Offener Ausgang der Brexit-Abstimmung
Noch ist vollkommen offen, wie sich das Vereinigte Königreich entscheiden wird. Gegner und Befürworter liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bisherige Volksentscheide zur EU lassen nichts Gutes erwarten. Die EU-Verfassung wurde durch Volksentscheide in mehreren EU-Staaten 2005 verhindert. Erst vor wenigen Wochen haben die Niederländer durch ihr Referendum zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine einen zuvor bereits ratifizierten Vertrag zu Fall gebracht.
Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre, als Margret Thatcher den Briten-Rabatt für die Zahlungen in die Gemeinschaftskasse durchgesetzt hat, ist klar, dass es Großbritannien versteht, seine Interessen erfolgreich zu vertreten. Ein „Remain“ wird es zukünftigen Regierungen erschweren, ihre Interessen weiterhin so lautstark zu artikulieren. Die Karte, mit der Spaltung der EU zu drohen, wird auf absehbare Zeit nicht mehr stechen. Größere Kompromissbereitschaft ist deshalb aber wohl trotzdem nicht zu erwarten.
Norwegen macht’s vor
Spannender ist die Frage, was geschieht, sollte sich Großbritannien für das Verlassen der EU entscheiden. Experten sehen negative Auswirkungen auf den britischen Außenhandel, in dessen Folge einen Verfall des Wirtschaftswachstums und die Gefährdung zahlreicher Arbeitsplätze. Belastbare Daten sind jedoch Fehlanzeige. Gut möglich, dass sich die Drohkulissen sehr schnell als Sturm im Wasserglas erweisen. Zwei Jahre bleiben den Briten Zeit, um ihre Verhältnisse neu zu ordnen. Norwegen, das sich als Mitglied von EFTA und Europäischem Wirtschaftsraum (EWR) quasi als 29. Mitglied der Gemeinschaft ohne Stimmrecht wirtschaftlich angeschlossen hat, könnte als Vorbild dienen. Das Land zeigt, wie eine enge Zusammenarbeit in Europa ohne EU-Mitgliedschaft funktioniert.
Möglich wäre eine Verschiebung des starken Finanzzentrums von London in andere europäische Metropolen. Eine Verlagerung von 20.000 Arbeitsplätzen nach Deutschland scheint laut Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenso möglich wie das Abwandern einiger Europazentralen großer internationaler Konzerne. Dass London deshalb seine Bedeutung als globales Finanzzentrum verliert, ist aber nicht zu erwarten. Zum Vergleich: Heute beschäftigt der Finanzsektor rund um die Canary Wharf rund 700.000 Menschen, Frankfurt nimmt sich mit seinen 75.000 Bankern dagegen bescheiden aus.
Wo kommt das Geld her?
Absehbar ist, dass die Zeiten für Großbritannien nicht zuletzt durch das langsam schwindende Nordseeöl in naher Zukunft deutlich rauer werden könnten. Während es Norwegen geschafft hat, als Ölstaat einen der größten Staatsfonds der Welt und damit ein beträchtliches Zukunftspolster aufzubauen, reihen sich die Briten spätestens seit den immensen Ausgaben für die Bankenrettung 2008 unter die übrigen europäischen Schuldenstaaten ein. Mag die absolute Höhe der Staatsverschuldung auf den ersten Blick moderat erscheinen, so wächst sie in beunruhigende Höhen setzt man sie in Beziehung zur Wirtschaftsleistung. Während andere Staaten der EU-Peripherie ihre Ausgaben langsam in den Griff zu bekommen scheinen, weist Großbritannien derzeit das größte Defizit aller Gemeinschaftsstaaten aus.
Überleben dank EZB
Wie werden sich andere EU-kritische Staaten nach einem negativen Referendum verhalten? Wird ein Dominoeffekt langsamer Erosion der Mitgliedschaften eintreten? Jenseits kurzfristigen Populismus kann es nur wenige Kandidaten geben, die ernsthaft über einen EU-Austritt nachdenken. Der vielgescholtene Euro bewirkt ein Überleben all der längst überschuldeten Staaten der EU-Peripherie. Gäbe es nicht die Möglichkeit der Staatsfinanzierung über die Notenpresse der Europäischen Zentralbank, wären Staaten wie Griechenland, Spanien, Portugal und Irland längst in den Staatsbankrott geschlittert, hätten es aber auch Schwergewichte wie Italien und Frankreich deutlich schwerer, einen geordneten Staatshaushalt aufrecht zu erhalten. Welche Regierung würde freiwillig auf die Rückversicherung durch das sich gegenseitig stützende Euro-System verzichten und sich selbst eines immensen Reformdrucks aussetzen?
Vordergründig betrachtet reißt der Wegfall der rund 12 Milliarden Euro UK-Beiträge am EU-Haushalt zwar ein gewaltiges Loch in die Kasse, bei näherem Hinsehen könnte sich aber der Briten-Rabatt aus den achtziger Jahren im Falle des Austritts als Segen erweisen, weil die fehlenden Nettobeträge in der EU-Kasse überschaubar bleiben. Hält die zuletzt gezeigte Kreativität bei der Finanzierung öffentlicher Haushalte weiter an, wird das Thema EU-Bond wieder aktuell werden. Dem Anleihe-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank sei Dank, sollten entstehende Haushaltslöcher schnell zu stopfen sein.
Britisches Roulette
Was am Ende als Folge des EU-Referendums übrig bleibt, dürften alleine heftige Börsenturbulenzen rund um den Abstimmungstermin sein, die umso größer ausfallen werden, je knapper der Wahlausgang zu erwarten sein wird. Bereits heute werden Wetten auf das britische Pfund abgeschlossen, was bereits eine deutliche Abwertung gegenüber dem Euro zur Folge hatte. Ein Austritt der Briten aus der EU wird heftige Ausschläge der Europäischen Börsen nach unten nach sich ziehen, ein Verbleib kurzfristige Übertreibungen nach oben. Leicht möglich, dass sich die Turbulenzen, die den Jahresauftakt an den Börsen markiert hatten, zur Jahresmitte wiederholen werden. Für Spekulanten wird sich das Referendum je nach Lageeinschätzung als Paradies oder Hölle erweisen. Heftige Kursausschläge sollten den Anleger mit Langfristperspektive nur kurzfristig nervös machen, grundlegende Anlagestrategien aber nicht in Frage stellen.
Alles in allem dürften sich die Folgen des EU-Referendums der Briten in Grenzen halten. Jenseits der üblichen Aufregung in den Medien sollten weder langfristige realwirtschaftliche noch politische Auswirkungen spürbar werden. Die jüngsten Referenden in anderen Staaten haben gezeigt, dass Volkswille in der EU im Großen und Ganzen bedeutungslos bleibt.
Ein Kommentar
Also die ersten Auswirkungen haben wir am vergangenen Freitag schon gesehen. Das könnte nur der Anfang der Korrekturen sein, die noch vor uns liegen. Ein Kollege in Rente hat mir erstaunt geschrieben, was mit den Bankaktien los sein. Die Antwort war einfach: Brexit-Angst. Es ist so wie mit der Bundespräsidentenwahl in Österreich. Das Ergebnis kann knapp werden und rund die Hälfte der Wähler sind mit dem Ausgang unzufrieden. Nach dem letzten griechischen Sommer hätten sich die europäischen Anleger ruhigere Ferien verdient.