Der „iPhone-Moment“ für die Finanzwelt?

Finanzsektor und GenKI

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Der Finanzsektor wird sich durch generative Künstliche Intelligenz drastisch verändern, aber der Weg dorthin ist nicht trivial und erfordert mehr als Spielerei mit Chat-Maschinen. Es wird Rückschläge geben und die Zukunft sieht nicht für alle Häuser gleich aus.

Generative Künstliche Intelligenz in der Finanzindustrie

Generative Künstliche Intelligenz in der Finanzindustrie – wie die Transformation in der Realität aussehen wird.

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Künstliche Intelligenz (KI) und insbesondere generative KI (GenKI) sind nicht zuletzt seit ChatGPT in aller Munde. Die Meinungen hinsichtlich der nachhaltigen und strukturellen Auswirkungen für den Finanzsektor reichen von pessimistischer Skepsis bis hin zu visionärer Euphorie. Die Erwartung einer fundamentalen Veränderung der Arbeitswelt ist fast schon vergleichbar mit dem Eintritt in ein neues Informationszeitalter.

Möglichkeiten, Einsatzfelder und Anforderungen beziehungsweise Risiken durch KI sind weitestgehend noch nicht durchdrungen. Vielerorts herrscht mangelhaftes Verständnis und gleichzeitig kein wirkliches Bewusstsein hierfür. Wir sind immer noch in einem frühen Stadium der tatsächlichen Nutzbarmachung von GenKI.

Hype oder fundamentaler Wandel der Finanzwelt?

Bedeutet generative Künstliche Intelligenz nur einen Hype oder eine fundamentale Veränderung der Finanzwelt? Die Tatsache, dass hinsichtlich dieser Frage das gesamte Spektrum der Meinungen vertreten ist, ist auch darauf zurückzuführen, dass noch viel Halb- bzw. Unwissen die Diskussionen und Ansichten prägt. Dies impliziert auch, dass derzeit das Potenzial und die innovativen Möglichkeiten von KI – generative KI ist ein Aspekt hierbei, aber bei weitem nicht der einzige – bei weitem noch nicht ausgeschöpft beziehungsweise erkannt sind.

Natürlich gibt es viele „Experimente“ und „Proofs-of-Concept“, die selten den Weg in die Operationalisierung finden, und gleichzeitig ist das Spektrum der „Use Cases“ eingeschränkt und recht repetitiv, wenn man die Ideen verschiedener Institute vergleicht. Echte und nachhaltige Innovation geschieht noch nicht wirklich. Langsam setzt sich daher die Einsicht durch, dass es bei (Gen) KI um mehr geht, als Antworten einer Large Language Maschine auszulösen oder GenKI zu nutzen, um Texte vorzuschreiben sich selbst durch lange Dokumente navigieren zu lassen.

Gleichzeitig kursieren die wildesten Ideen und Ansätze was GenKI in Zukunft alles übernehmen wird bis hin zur Prognose, dass ein Großteil der gegenwärtigen Arbeitsplätze entfallen wird. Auch diese haben wenig realistische, kurzfristige Aussichten der Realisierung, da die fundamentalen Aspekte nicht verinnerlicht sind. Die Umsetzungsambitionen können so nicht erreicht werden. Rückschläge und lokales drastisches Fehlerhalten, u.U. mit materiellen negativen Implikationen für Institute, erscheinen vorprogrammiert.

Evolution statt Revolution

KI und GenKI sind mächtige Verfahren. Sie werden den Finanzsektor verändern, sowohl seitens der Industrie, aber auch seitens der Aufsichtsbehörden. All dies wird sich allerdings mehr als eine Evolution und weniger eine Revolution ereignen.

Nachhaltige und sichere Nutzung der neuen Möglichkeiten erfordert ein neues Fähigkeitenprofil, das sich über die Hierarchieebenen in Instituten hinweg erst noch entwickeln muss: Expertise hinsichtlich KI bzw. Data Science, kombiniert mit einem tiefen Verständnis des Geschäftsgebarens und der zugehörigen Wertschöpfungskette, ergänzt durch Umsetzungs- und (Modell-)Risikokompetenz. Dies ist unseres Erachtens essenziell für die tatsächliche Nutzbarmachung der neuen Verfahren.

Nur in dieser Kombination können die obigen Hindernisse aus dem Weg geräumt und GenKI tatsächlich tangibel in der Praxis umgesetzt werden. Die mächtigen Möglichkeiten, die GenKI bietet, werden nach und nach realisiert werden; vor dem Hintergrund der oben skizzierten Aufgaben bleibt jedoch ein „Big Bang“ aus, den manche für die Finanzwelt vorhersehen und prognostizieren.

Finanzbranche prädestiniert für GenKI

Dabei ist es nach unserer Einschätzung durchaus richtig, dass die Finanzindustrie geradezu prädestiniert dazu ist, materiellen Nutzen aus den neuen Verfahren zu ziehen. Der Fokus auf Daten, quantitative Information und weitere objektive Datenquellen, teilweise komplexe Prozesse, die viel Expertise und Aufwand erfordern, die Notwendigkeit Kundeninformation effizient mit dem Fokus auf den Kundennutzen und der Effizienz- bzw. Wettbewerbsdruck – all dies stellt ein geeignetes Spielfeld zur breiteren Nutzung von GenKI dar.

GenKI bietet eine exzellente Chance und gleichzeitig eine materielle Herausforderung für Banken und Finanzunternehmen. Seit langem existierende Herausforderungen können effizient damit angegangen werden. Allerdings geht es um weit mehr, als nur althergebrachte Probleme zu lösen

GenKI als Faktor im Wettbewerb

Demzufolge bietet GenKI eine hervorragende Möglichkeit für die Spieler in den Finanzmärkten, ihr breites Verbesserungspotenzial zu heben. Wir erwarten hierbei auch, dass sich die Spreu vom Weizen trennen wird: diejenigen, die frühzeitig die richtigen Hebel stellen und eine klare, realistische Vision hinsichtlich der Nutzung und der eigenen Positionierung im  GenKI-Kontext definieren und darlegen, werden sich rasch weiterentwickeln und sich von den Zögerern absetzen. Dies wird sich nicht nur in einer besseren Kundenbeziehung und damit in besseren  Geschäftserfolg niederschlagen, sondern künftig auch ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor im Kampf um junge Talente sein. Eine erfolgreiche Positionierung in letzterem wird den Abstand zu anderen Spielern weiter vergrößern und gleichzeitig neue Möglichkeiten und Innovation im Service für die Kunden schaffen.

Wir glauben nicht an die immer wieder vorgebrachte „work like a tech company“-Prämisse für Finanzinstitute. Vielmehr denken wir, dass die Service-Philosophie des Finanzsektors erhalten bleiben wird. Dennoch wird sich das Arbeitsmodell und die Kultur verändern müssen, um den zentralen Bestandteil des Mandats – den Kundenservice – nachhaltig stärken und weiterentwickeln zu können.

KI erfordert neue Denkweisen

Auch wenn es auf den ersten Blick überraschend  erscheinen mag, dass wir das Thema Kultur in diesem Zusammenhang aufgreifen, so ist es nach unserer Überzeugung dennoch wichtig und nachvollziehbar. Die nahtlose Integration der neuen KI-Möglichkeiten in die Geschäftsmodelle erfordern die Entwicklung einer neuen Denkweise und eines interdisziplinäreren Modells der Zusammenarbeit.

Wo wir es heute schon beobachten können, werden wir bestätigt, dass dies eine wesentliche und richtige Veränderung ist. „Techniker“ und Geschäftsexperten werden in Zukunft viel enger zusammenarbeiten und viel stärker voneinander lernen, als dies heute der Fall ist.

Herausforderungen durch (Gen)KI

Die neuen Möglichkeiten und Chancen kommen nicht ohne Preis. Wie bei jeder Technologie muss der Umgang erlernt und Risiken müssen identifiziert und gesteuert werden. Eine zusätzliche Anforderung an das Kompetenzprofil der Institute, ihrer Mitarbeiter und die Aufsichtsbehörden geht damit ganz natürlich einher

Das bereits erwähnte Spannungsfeld zwischen Angst und Euphorie ist vermutlich genau die beste Ausgangsbasis. Es gilt, die geeignete Balance zwischen beiden Extremen zu finden, denn nur so ist eine zielgerichtete und nachhaltige Vorgehensweise hinsichtlich einer Realisierung der KI-Verfahren machbar.

Entwicklung von Best Practice-Standards

Dies hört sich einfach an, ist es aber in der Praxis nicht immer: beide Enden des Spektrums müssen viel besser verstanden und strukturiert werden. Einerseits ist das Spektrum der Möglichkeiten bei weitem noch nicht erkannt, andererseits müssen die damit einhergehenden Risiken genauer verstanden und identifiziert werden. Beide Dimensionen müssen sich also Hand-in-Hand weiterentwickeln – inklusive der Rollen und Vorgaben von 2nd-Line-Funktionen und Standardsetzern sowie Aufsichtsbehörden.

Dieser Lernprozess wird ganz sicher nicht ohne einzelne und ggf. sogar materielle Fehlschläge von statten gehen. Aus diesen ist dann zu lernen, und sie werden Best Practice-Standards mitprägen. Vor dem Hintergrund der evolutionären Systematik und der diversifizierten Rollen bzw. Ambitionen, die die verschiedenen Teilnehmer im Finanzsektor hierbei einnehmen werden, ist nicht davon auszugehen, dass Künstliche Intelligenz, wie von manchen erwartet, systemische Ereignisse im Finanzsektor auslösen oder gar die nächste Finanzkrise verursachen wird.

KI wird die Finanzwelt positiv weiterentwickeln

Die KI-getriebene Veränderung wird kommen und ist bereits gestartet, und sie wird den Finanzsektor fundamental verändern, Rückschläge und Negativ-Ereignisse werden hierbei nicht ausbleiben können, insgesamt aber wird sich nach unserer festen Überzeugung ein nachhaltiger Nutzen für den Finanzsektor und die Verbraucher einstellen. Aber: All dies passiert nicht von allein und kommt nicht ohne einen Preis

KI wird die Finanzwelt insgesamt positiv weiterentwickeln, und diese Weiterentwicklung wird sich weiter beschleunigen. Nicht nur, weil das Verständnis der Nutzbarmachung rasch zunehmen wird, sondern auch, weil die Technologie selbst weitere große Schritte nach vorne machen wird.

Es ist aus richtig und wichtig, die neuen Möglichkeiten durch KI in der Breite und mit Fokus auf Nutzen einzusetzen. Mit dem richtigen Ansatz bietet dies signifikante und nachhaltige Vorteile. Der richtige Ansatz ist jedoch in jedem Falle individuell zu definieren, der Weg dorthin ist neu zu erlernen, entsprechende Standards – sowohl von den Aufsichtsbehörden als auch von den Instituten selbst – sind neu zu definieren, und echte Agilität sowie eine komplett neue Denkweise werden hierbei unabdingbar sein.


Dr. Rainer Glaser – Partner, Oliver Wyman

Dr. Rainer Glaser

Dr. Rainer Glaser ist Koautor des Beitrags. Er ist Partner bei Oliver Wyman und leitet die Europäische Data & Analytics Plattform. Er ist Experte für quantitative Verfahren und künstliche Intelligenz im Finanzsektor und begleitet eine Vielzahl von Finanzinstituten bei Ihrer KI-Transformation.

 

Über den Autor

Dr. Andreas Dombret

Prof. Dr. Andreas Dombret ist in einer Vielzahl von Ausschüssen sowie in verschiedenen ehrenamtlichen Funktionen tätig, u.a. als Global Senior Advisor für Oliver Wyman. Er war von 2010 bis 2018 Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank und u.a. für die Bereiche Banken- und Finanzaufsicht, Finanzstabilität und Märkte zuständig. Zuvor absolvierte er – nach Banklehre und Studium - verschiedene berufliche Stationen bei der Deutschen Bank, Rothschild und Bank of America.

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