Die Finanzindustrie steht vor einem grundlegenden Umbruch. Zwischen Digitalisierungsdruck, wachsender Konkurrenz von FinTechs und disruptiven Plattform-Anbietern wie Amazon oder Google und sich wandelnden Kundenbedürfnissen, müssen sich viele Finanzinstitute neu orientieren.
Die Corona-Krise, deren langfristige Folgen noch offen sind, hat schon eines gezeigt: Durch COVID-19 hat sich die Digitalisierung im gesamten Finanzsektor, vor allem auch bei Banken und Versicherungen, deutlich beschleunigt. Die gesamte Branche – egal ob etablierte Anbieter oder neue FinTechs – scheint sich einig zu sein: An einer schnellen Digitalisierung führt langfristig kein Weg mehr vorbei.
Dabei ist sicherlich eine der zentralen und spannendsten Fragen, wie es Finanzinstituten gelingt, ihren Vertrieb zu digitalisieren. EY hat zukunftsweisende Themen im Versicherungsmarkt mit dem InsurLab Germany im Rahmen der gemeinsamen Studie „Insurance bEYond 2020“ kürzlich untersucht. Es wird vermutet, dass einige Erkenntnisse der Studie auch auf andere klassische Bereiche der Finanzindustrie wie Banken oder Asset Manager übertragbar sind, denn die Unterschiede zwischen den Branchen sind beim Grad der Digitalisierung meist fließend. Vor allem Banken und Versicherungen stehen vor ähnlich gelagerten Herausforderungen und Trends – insbesondere wie sie ihre Chancen in einem Geschäft mit immer engeren Margen nutzen.
Finanzunternehmen müssen digitale Vertriebswege verstehen und abstimmen
Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass etablierte Finanzunternehmen ihre digitalen Vertriebswege in Gänze verstehen und aufeinander abstimmen müssen, damit die Digitalisierung der Vertriebswege zum Erfolg wird. Doch was heißt das konkret? Die Produkte, die über die neuen digitalen Vertriebskanäle angeboten werden, müssen dazu auch passen. Und noch viel wichtiger: Die Vertriebskanäle und die darüber angebotenen Produkte müssen den sich dramatisch veränderten Kundenbedürfnissen entsprechen.
Noch werden in Deutschland die große Mehrheit der Finanzprodukte über klassische Kanäle verkauft. Doch der Anteil der Produkte, der digital vertrieben wird, steigt in nahezu allen Branchen – von alltäglichen Haushaltsgegenständen bis hin zu Finanzprodukten. Das Wachstum der digitalen Vertriebskanäle wurde in den letzten Monaten durch die COVID-19 Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens noch einmal signifikant beschleunigt. Niederlassungen von Banken und Versicherungen waren teilweise über längere Zeiträume hinweg geschlossen und auch diejenigen Kunden, die sich normalerweise vor Ort beraten lassen haben, waren nun erstmals gezwungen, sich digital über Finanzprodukte zu informieren.
Anhaltender Druck auf klassische Vertriebskanäle
Die aktuelle Zeit ist geprägt davon, unnötige Kontakte im Sinne des Infektionsschutzes zu reduzieren und es bleibt zu vermuten, dass viele Verhaltensweisen langfristig beibehalten werden – ein allzu schneller Umkehreffekt dieser Entwicklung ist also nicht zu erwarten. Außerdem sehen sich zahlreiche Banken in Deutschland dazu gezwungen, ihre Kosten zu reduzieren und in diesem Zusammenhang weitere Filialen zu schließen. Die Ungewissheit, wie sich die langfristigen Folgen der COVID-19 Pandemie auf die etablierte Finanzwelt auswirken, dürfte diesen Kostendruck zusätzlich verschärfen. Es ist also zu erwarten, dass sich der angebundene Vertrieb wie in den letzten Jahren und wie in einigen anderen Branchen weiter rückläufig entwickeln wird.
Beratung oder Information?
Im klassischen Vertrieb bekommt der Kunde in der Bank- oder Versicherungsfiliale vor Ort verschiedene Produkte aufgezeigt. Oftmals sind diese Produkte so komplex, dass sie eine Beratung zwingend erforderlich machen und die notwenige Beratungsleistung die Kosten für das Produkt steigen lässt. Doch vor allem jüngere Kunden erwarten heute einfach verständliche und transparent aufgebaute Produkte und Services und die Möglichkeit, sich unabhängig darüber informieren zu können. Einfach verständliche Apps oder Finanzblogs bieten interessierten Kunden die Möglichkeit, sich online über Finanzprodukte umfassend zu informieren, und so schlussendlich diese Produkte zu verstehen und selbst digital erwerben zu können. Es zeichnet sich ebenfalls ab, dass Kunden eine höhere Flexibilität erwarten: sie möchten heute nicht mehr darauf warten, bis ihr Finanzberater wieder erreichbar ist. Der digitale Vertrieb kann also nur mit Produkten gelingen, die diesen veränderten Kundenerwartungen gerecht werden.
Kundenbedürfnisse in den Mittelpunkt stellen
Finanzdienstleister sollten also die Kundenbedürfnisse von morgen in den Mittelpunkt stellen, und Kunden eine bessere ‚Customer Experience‘ bieten. Damit geht aber auch ein grundlegender Mentalitätswandel einher: es werden nicht mehr neue Kunden(-segmente) für ein bestimmtes Produkt, das der Finanzproduktanbieter vertreibt, gesucht. Sondern alternativ könnten Produkte entwickelt werden, die einfach verständlich sind und sich anhand der individuellen Kundenbedürfnisse leichter flexibilisieren lassen.
Viele Branchen sind hier sicherlich bereits weiter als die Finanzindustrie. „In Zukunft sollten Empfehlungen für Finanzprodukte viel stärker dem entsprechen, wie wir auch andere Alltagsprodukte digital suchen und kaufen. Ein gutes Beispiel ist Netflix, das neue Filme auf Basis der bisherigen Interessen vorschlägt“, so die Vorstellung der erfahrenen FinTech-Unternehmerin Dr. Carolin Gabor, die sie skizzierte, als sie zu Gast im Podcast ‚EY FinTech & bEYond‘ war.
Hybridisierung der Vertriebsstruktur
Wie gelingt es Finanzdienstleistern also, den neuen Kundenbedürfnissen zu entsprechen? Die Studie zeigt auf, dass Anbieter aus der Banken- und Versicherungswelt zunehmend über innovative Kooperationsmodelle nachdenken. Ein gutes Beispiel sind innovative FinTechs, die während der Hochphase der Corona-Krise im Frühling 2020 digitale Solutions für etablierte Anbieter gelauncht haben, um die Face-to-Face Beratung zu erleichtern. Dies führt zu einer Hybridisierung der klassischen Vertriebsstruktur, die Vorteile für Vertriebler und Endkunden bietet.
Nicht nur scheinen Banken und Versicherungen aufgrund der ähnlich gelagerten Herausforderungen die Zusammenarbeit untereinander zu intensivieren, um gemeinsam innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wie die erwähnte Studie feststellt, reagieren viele Versicherer auf diese Herausforderungen, indem sie mit innovativen Tech-Unternehmen kooperieren, in sie investieren und sie in manchen Fällen sogar erwerben.
Etablierung von Ökosystemen
Eine weitere Erkenntnis der Studie ist, dass die Etablierung von Ökosystemen zunimmt. Bei Ökosystemen steht – unabhängig von ihrer Ausrichtung – der Gedanke im Fokus, eine zentrale (Themen-)Plattform zur Zusammenführung und Bereitstellung der besten Lösungen für die Kunden zu bieten. Dabei bieten sie sowohl den unterschiedlichen Anbietern als auch den Endkunden häufig mehr Transparenz und stärker auf die Kundenbedürfnisse zugeschnittene Angebote. Diese Einschätzung hat auch Dr. Harald Brock, Geschäftsführer der investify S.A. und Aufsichtsratsmitglied der CoWork AG, im Podcast ‚EY FinTech & bEYond‘ bestätigt: „Wir befinden uns gerade in einem wirklich starken Wandlungsprozess. Während Banken sich früher darauf konzentriert haben, alles selbst und möglichst ‚on premise‘ zu machen, stellen wir heute fest, dass das komplett aufbricht. Banken sind bereit, mit Plattformen zusammenzuarbeiten.“
Auswahl der Partner ist erfolgskritisch
Doch es kommt auch auf die richtige Darstellung und Einbindung von digitalen Angeboten sowie die Auswahl der passenden Partner an. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir als Verbraucher künftig eine große Anzahl an digitalen Plattformen nutzen, um unsere Finanzgeschäfte zu erledigen. Entweder wir nutzen Finanzprodukte eingebettet in andere digitalen Alltagsplattformen wie Amazon & Co. oder wir nutzen zusätzlich noch eine Plattform, um explizit unsere Finanzen zu managen“, so die Einschätzung der FinTech-Unternehmerin Dr. Carolin Gabor im Podcast ‚EY FinTech & bEYond‘. „Deswegen empfehle ich allen etablierten Playern in der Branche, daran zu arbeiten, dass ihre Produkte sich einfach in andere Plattformen integrieren lassen.“
Zunehmend bespielen viele Tech-Firmen und neue Finanzdienstleister nur bestimmte Bereiche des Produktvertriebs: So konzentriert sich beispielsweise der Versicherungsmanager Clark insbesondere auf den Vertrieb. Ein derartiger Nischenfokus erlaubt es auch etablierten Finanzdienstleistern, sich künftig stärker zu spezialisieren und den Fokus auf (bereits vorhandene) Stärken zu legen. Das ist umso relevanter in Märkten, die unter zunehmendem Margendruck leiden und unter Umständen mit steigender Konsolidierung konfrontiert sind. Gerade vor diesem Hintergrund bietet die Ausbreitung von Ökosystemen für Finanzinstitute die Chance, Kosten bei der Entwicklung von Produkten zu senken. Durch Kooperationen mit FinTechs und der intelligenten Teilnahme an Ökosystemen können einfacher verständliche Produkte entstehen und gleichzeitig die Vertriebskosten von etablierten Finanzproduktanbietern drastisch gesenkt werden.
Corona pusht digitalen Vertrieb
Die Erkenntnis der Studie „Insurance bEYond 2020“ ist eindeutig: COVID-19 und die damit verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens zeigen sich als Momentum und Katalysator für den Vertrieb von digitalen Finanzprodukten. Diese Entwicklung kann in verschiedenen Branchen des Finanzsektors beobachtet werden: auch Versicherungen, die bei der Digitalisierung an manchen Stellen noch um kleinere Schritte hinter Banken liegen, setzen immer stärker auf digitale Vertriebskanäle.
Damit Banken, Versicherungen und Asset Managern dieser Wandel nachhaltig gelingt, müssen sie jedoch ihre Legacy überkommen, sich von überholten Modellen verabschieden und einen Mentalitätswandel einleiten. Wenn dies gelingt, erhalten etablierte Finanzdienstleister die Chance, mit individuelleren Angeboten eine bessere Produktumgebung für alle Marktteilnehmer zu gestalten und eine enge Kundenbeziehung beizubehalten – auch wenn sie digital ist.