Ein Jahr nach dem Brexit Referendum wissen wir noch immer nicht, wie es zwischen Großbritannien und der EU weitergehen soll. Wenige Wochen nach den Neuwahlen gilt manches, was wir dachten zu wissen, nun auch nicht mehr.

Jahrestag des Brexit Referendums

Wo stehen Großbritannien und die Europäische Union am ersten Jahrestag des Brexit-Referendums?

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Vor exakt einem Jahr entschieden sich die Bürger des Vereinigten Königreichs gegen den Verbleib als Mitglied der EU. Für eine der vielen denkbaren Alternativen zur Vollmitgliedschaft haben sie sich indes nicht entschieden. Ein Verbleib im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder in Europäischen Zollunion wäre mit dem Wortlaut des Votums durchaus auch vereinbar. Unvereinbar wären diese „soft Brexit“ Szenarien indes mit der Hoffnung vieler „leave“ Wähler und Politiker, mit dem Austritt auch wichtige Teile nationaler Souveränität zurück zu erhalten: Kontrolle über Einwanderung aus EU-Staaten, Unabhängigkeit von EU-Binnenmarktregeln (und deren Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof), eigene nationale Handelspolitik und einiges mehr.

„Brexit means Brexit“ – und in der Interpretation der britischen Regierung, erst Mitte Mai 2017 in einem Weißbuch öffentlich und einigermaßen detailliert dargelegt – eben auch: raus aus dem EWR und der Zollunion! Gleichzeitig wünscht sich die Regierung aber auch eine „neue strategische Partnerschaft“ mit der EU: bei der Verbrechens- und Terrorbekämpfung und vor allem: beim Handel mit Gütern und (Finanz-) Dienstleistungen.

Ebenso konsequent schien es auch zunächst, dass Theresa May  für sich und ihre Politik, die sich in einigem von der ihres gewählten Vorgängers David Cameron unterscheidet, ein neues demokratisches Mandat suchte. Anstatt des erwarteten Ausbaus der Tory-Mehrheit ist diese aber nun verloren; ebenso wie nahezu drei Monate ungenutzter Verhandlungszeit, seitdem May den Austrittsantrag Ende März gestellt hat.

Zeit und Zuversicht verloren

Noch weniger Zeit, noch mehr Unsicherheit: Bisher bestanden Unsicherheiten darüber, welche Konsequenzen der angekündigte „harte Brexit“ für die britische und europäische Wirtschaft hätte und wie sehr die EU (auch aus eigenen wirtschaftlichen Interessen) den Briten dennoch möglichst barrierefreien Zugang zum gegenseitig vorteilhaften Freihandel gewähren würde.

Diese ökonomischen Unwägbarkeiten bestehen nach wie vor; hinzu kommt nun aber noch die politische Frage, ob die konservative Minderheitsregierung hält und welche Konsequenzen eine Duldung durch die Nordirische DUP haben kann. Derzeit fällt es schwer, für irgendeine der vielen Brexit-Varianten eine Mehrheit im Britischen Unterhaus auszumachen.

Derweil sind die Regierungschefs und Verhandlungsführer der EU27 erstaunlich einig und gelassen; ein wenig Schadenfreude kommt gelegentlich auch dazu: „da seht ihr (und mögliche Nachahmer), was ihr davon habt!“

Zwar ist in Großbritannien das befürchtete wirtschaftliche Chaos bisher ausgeblieben; die Sorgen jedoch steigen: das Pfund verliert weiter an Wert, die damit importierte Inflation steigt stärker als die nationalen Einkommen, damit sinkt die heimische Kaufkraft und der Konsum. Zudem sind Investoren aus dem In- und Ausland nun noch mehr als zuvor verunsichert und somit zurückhaltend. Bei Banken, Versicherungen und Automobilbauern liegen „B-Pläne“ schon längst in der Schublade und werden zunehmend auch exekutiert.

Künftige Handelsbeziehungen unklar

Dass das UK nicht mehr dem Binnenmarkt angehören wird, ist keine Überraschung. Man muss auch nicht Mitglied des EWR sein, um dennoch (wie Kanada) Zugang zu ihm zu haben. Aber Kanada (und selbst das EFTA-Mitglied Schweiz) haben genau da wenig Zugang, wo es für die Briten am wertvollsten ist: bei Finanzdienstleistungen.

Dass die Briten auch die Zollunion verlassen wollen (die die EU etwa mit der Türkei hat) ist einerseits nachvollziehbar: denn sonst könnten sie keine eigenständigen Freihandelsabkommen mit dem (wachsenden) Rest der Welt schließen. Die EU ist hier sehr schwerfällig, wie das jahrelange Ringen um das Abkommen mit Kanada (CETA) gezeigt hat: am Ende müssen alle 27 Regierungen und teilweise auch deren regionale Parlamente zustimmen.

Langfristig könnte Großbritannien mit einer notfalls unilateral nachgiebigen Freihandelspolitik mit dem Rest der Welt hier mehr erreichen. Kurz- und mittelfristig dürfte außerhalb der Zollunion aber der Handel mit den EU27 Staaten leiden, da aufwendige Zollabwicklungen und Ursprungslandnachweise notwendig werden. Dies betrifft etwa die Automobilindustrie stark, die komplexe grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten aufweist.

Politisch kommt hinzu, dass der Austritt aus der Zollunion eine „harte Grenze“ zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem UK-Mitglied Nordirland nahezu unumgänglich macht. Zwar gibt es administrative und technische Möglichkeiten, die Grenze wenig sichtbar erscheinen zu lassen; dennoch ist damit zu rechnen, dass Großbritannien für eine längere Übergangszeit auch nach März 2019 in der Zollunion verbleibt, um ökonomische und politische Verwerfungen zu vermeiden.

Übergangsregelungen nötig

Eine mehrjährige Übergangsperiode wird es ohnehin Fall brauchen, da niemand ernsthaft davon ausgeht, dass in den verbleibenden etwa fünfzehn Monaten (die Abkommen müssen zuvor ja noch vom europäischen und britischen Parlament beraten und beschlossen werden) ein neues Handelsregime zwischen der EU und den Briten vereinbart sein wird.

Im besten Fall sieht das Übergangsregime dem jetzigen Zustand der Handelsbeziehungen recht ähnlich; auch eine volkswirtschaftlich schädliche Fragmentierung der Londoner City, die als weltweit agierender Cluster von Finanzdienstleistungen auch der Europäischen Wirtschaft dient, sollte vermieden werden. Die Briten müssten hierfür freilich auch etwas anbieten. Dabei geht es vor allem um die „exit-Rechnung“ bisheriger Zahlungsverpflichtungen an das EU-Budget, die zwischen 40 und 100 Milliarden Euro liegen könnte; auch bei der Freizügigkeit von EU-Bürgern müsste Großbritannien großzügiger sein; und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs müssten die Briten wohl in Teilen weiter respektieren.

Stimmungswandel

„No deal is better than a bad deal“: diese „harte“ Ansage von Theresa May, notfalls eben als WTO-Drittland aus der EU auszuscheiden, wird sich nunmehr kaum mehr halten lassen. Ihr Schatzkanzler, Philip Hammond, den sie bei einem klaren Wahlsieg wohl entlassen hätte, führt nun ein mehrheitsnotwendiges Lager von rund 30 Abgeordneten an, das für einen ökonomisch verkraftbaren „soft Brexit“ mit wirtschaftsfreundlichen Übergangsregelungen eintritt.

Den Gegnern einer „hard Brexit“ Strategie kommt das Wahlergebnis entgegen, das freilich mangels konkreter Debatte auch nicht als „zweites EU-Referendum“ gedeutet werden kann. Aber die Stimmung scheint sich insgesamt zu wandeln, wie eine aktuelle Umfrage zeigt, wonach die Briten inzwischen mehrheitlich eine positive Meinung zur EU haben. Auch in anderen Ländern (außer Griechenland) ist die EU-Skepsis seit dem Brexit-Referendum (und den US-Wahlen) merklich gesunken.  Das heißt nicht, dass der Brexit-Entscheid in den nächsten Jahren zurückgenommen werden würde. Es heißt aber, dass die Briten nun nur noch die Wahl haben zwischen verschiedenen „bad deals“, die freilich allesamt besser wären als „no deal“.

In 2017 beurteilen die Europäer – mit Ausnahme der Griechen – die Europäische Union überwiegend positiv