Europas Zukunft im Zeitalter der „hackable animals”

Humanistische Innovationskultur als Markenkern im globalen Technologiewettbewerb

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Biotechnologische Innovationen könnten Menschen zukünftig zu programmier- und manipulierbaren Objekten machen. Der Wettbewerb von Unternehmen und Staaten um die Vorherrschaft dieser Technologien hat längst begonnen – die Positionierung Europas in diesem Szenario ist bislang noch ungewiss.

Technologische Innovationen wirken auf den Menschen ein

Neue Technologien sind nicht immer ein gesellschaftlicher Gewinn.

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Der israelische Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari zeichnet ein beunruhigendes Bild von der Zukunft des Menschen: Die jüngsten Fortschritte in der Biowissenschaft und -technologie sind für ihn die Grundlage, den menschlichen Körper – ähnlich wie Computer oder Smartphones – als Ansammlung von Sensoren zu verstehen. Diese empfangen und bündeln zunächst Informationen, die dann vom Gehirn weiterverarbeitet werden. Wie ein Algorithmus fällt dieses Entscheidungen, löst Handlungen aus oder ruft Emotionen hervor. Denkt man diese Analogie weiter, könnte der Mensch zum Objekt manipulativer Angriffe oder „Hacks“ mit kaum absehbaren Konsequenzen werden.

Unabhängig davon, wie man zu Untergangsszenarien steht: Die CRISPR/Cas-Methode oder intelligente Bakterien bzw. Transistoren sind nur zwei Beispiele für faktisch vorhandene Technologien, die auch zu manipulativen Zwecken eingesetzt werden könnten. Nimmt man dies ernst und das „Hacken von Menschen“ wäre tatsächlich denkbar, ist eine Standortbestimmung für Europa im Kontext des globalen Technologie- und Innovationswettbewerbs nötig. Schließlich werden es (neben Unternehmen) vor allem Staaten sein, die an einem entsprechenden Technologievorsprung maximales Interesse haben dürften.

Forschungs- und Innovationsleistung bestimmen die Wettbewerbsfähigkeit

Ein Vergleich der Wettbewerbsfaktoren ergibt einerseits, dass es Europa angesichts der Unterlegenheit beim Zugriff auf Rechenkapazitäten oder der Verfügbarkeit analysefähiger Daten an einem starken und differenzierenden Markenkern gegenüber den Digital- und Technologiemächten USA und China fehlt. Andererseits scheint die biotechnologische Forschungs- und Innovationsleistung eine vielversprechende Ausgangsbasis zu sein, um einen solchen aufzubauen. Hier ist Europa stark – insbesondere dann, wenn man die Patentrelevanz (statt die reine Patentanzahl) als Analysekriterium heranzieht. Damit sind wir beim Punkt: Forschung und Innovationen sind und bleiben die treibenden Kräfte, die langfristig Wettbewerbsfähigkeit und ein stabiles Wachstum innerhalb eines Marktes sichern können.

Unstrittig ist daher zum einen, dass Europa die Innovationskraft seiner Unternehmen und Universitäten quantitativ wie qualitativ mehr fördern muss. Zum anderen darf auch noch mehr großvisionäres Denken im Stil des Silicon-Valley-Mindsets in europäischen Unternehmen Einzug halten. Eine bloße Imitation ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Unternehmens- und Innovationskulturen entwickeln sich über Jahrzehnte und lassen sich nicht von heute auf morgen verändern. Die Besinnung auf die eigenen, schon vorhandenen (kulturellen) Stärken kann daher manchmal schneller zum Erfolg führen. Beide Aspekte könnten zusammengenommen die Voraussetzung für dringend benötigte „Moonshots“ schaffen – also Innovationsleistungen, die zwar mit großen Visionen verbunden sind, letztlich aber auch nur als Summe vieler kleiner Teile möglich werden.

Gesellschaftliche und kulturelle Faktoren als Determinanten des Innovationserfolgs

In diese Summe fließt auch die Berücksichtigung des gesellschaftlichen und kulturellen Wertegerüsts ein, das eine entscheidende Determinante der Durchsetzungsschlagkraft und des Erfolgs von Innovationen ist. Zum Beispiel ist das unterschiedliche Ausmaß der Nutzung unbarer Zahlungsmittel in den USA und Deutschland zum Großteil auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen. Bargeldlose Bezahlmethoden können technologisch noch so innovativ und ausgereift sein – sie setzen sich als Innovation nicht oder nur sehr langsam durch, wenn sie die Wertegerüste und Bedürfnisse nicht adäquat berücksichtigen.

Gesellschaftliche Bedürfnisse im digitalen Zeitalter

Auch im digitalen Zeitalter lassen sich menschliche Bedürfnisse noch mit der bekannten Maslow’schen Bedürfnishierarchie kategorisieren. So lässt sich argumentieren, dass US-Technologiekonzerne im Rahmen des regulären Innovationszyklus inzwischen eher individuelle und soziale Bedürfnisse sowie das Bedürfnis der Selbstverwirklichung bedienen. Das Bezahlen mit Apple-Produkten, bei denen weniger die Grundfunktionalitäten als vielmehr das Hardware-Design samt Außenwirkung weiterentwickelt werden, bedient den oberen Teil der Hierarchie. In Europa geht es im Zahlungsverkehr weniger um den „Chic“, als vielmehr um die Sicherheit, den Schutz der Privatsphäre und – ganz allgemein – das Bereitstellen von vertrauenswürdigen, hochqualitativen, langlebigen und daher langfristig Nutzen stiftenden Produkten und Technologien. Das zielt auf Innovationen ab, die existenzielle und psychologische Bedürfnisse der Menschen adressieren. Sie bilden das Fundament der Pyramide.

Humanistische Innovationskultur als Alleinstellungsmerkmal

Verleiht man diesen Beobachtungen für einen Moment Allgemeingültigkeit, hat Europa – die richtigen Rahmenbedingungen vorausgesetzt – die große Chance, sich durch Nutzung der eigenen kulturell verankerten Fokussierung auf die wesentlichen Bedürfnisse der Menschen von den USA und China klar abzugrenzen. Das Zusammenbringen von Innovation und Humanismus, mündend im Aufbau einer humanistischen Innovationskultur, könnte zum europäischen Markenkern werden. Grundlage hierfür kann Europas schon heute stark humanistisch geprägtes Bildungssystem sein. Das gezielte Setzen auf Bildung, die technologische Innovationen und Spitzenforschung mit menschlicher und gesellschaftlicher Verantwortung verbindet, kann die Basis sein, um die richtigen Produkte und Technologien zu entwickeln. Diese stehen im Einklang mit dem gesellschaftlichen Wertegerüst, setzen sich daher durch und sichern langfristig Wettbewerbsfähigkeit.

Sollte sich Hararis Zukunftsvision nicht nur als reine Spekulation erweisen, wäre Europa mit einem solchen Markenkern nicht nur gut gerüstet, sondern fast schon in der Pflicht, Antworten auf die berechtigten Ängste und Sorgen der Menschen zu geben. Eine aufgeklärte Gesellschaft muss „hackable animals“ und die zugrundeliegenden Technologien nämlich nicht per se als etwas Schlechtes oder Beunruhigendes betrachten. Vielmehr sind die konkreten Anwendungsfälle entscheidend und auf ihre Chancen und Risiken hin zu untersuchen. Die daraus resultierenden, gesellschaftlichen und ethischen Abwägungen zu ihrem Einsatz bringen bereits bekannte Problemstellungen mit sich. Europa sollte und kann nicht nur einen substanziellen Beitrag deren Beantwortung leisten, sondern auch die klare Ambition haben, mit den eigenen biotechnologischen Spitzenleistungen in Führung zu gehen – stets ausgerichtet am übergeordneten gesellschaftlichen Interesse und „Innovationen für und nah am Menschen“.


Dr. Thorsten Gudjons – Partner, Financial Services Solutions, Deloitte

Dr. Thorsten Gudjons

Dr. Thorsten Gudjons ist Koautor des Beitrags. Er ist Partner bei Deloitte Consulting im Bereich Financial Service Solutions, Leiter FS Business Transformation und verfügt über langjährige Erfahrung in der Leitung von Projekten im FSI CIO/COO Umfeld, Erbringung von End-to-End Services sowie Lösungen zur Bewertung, Definition und Ausführung von Organisations- sowie IT Strategien.

 

Dr. Daniel Streit - Senior Consultant, Financial Services Solutions, Deloitte

Dr. Daniel Streit

Dr. Daniel Streit ist Koautor des Beitrags. Er ist Senior Consultant bei Deloitte Consulting im Bereich Financial Services Solutions (FS Business Transformation) und verfügt über relevante Erfahrung in der Planung und dem Management agiler Transformationsprojekte sowie in der digitalen Strategie-, Geschäftsmodell- und Produktentwicklung im Banken- und Finanztechnologie-Umfeld. Er ist Autor mehrerer Publikationen zur digitalen Transformation und Regulierung von Banken.


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Über den Autor

Nicolai Andersen

Nicolai Andersen ist Hauptautor des Beitrags. Er ist Chief Innovation Officer von Deloitte in der EMEA Region und beschäftigt sich in dieser Rolle mit den Auswirkungen von technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Trends auf Unternehmen und Gesellschaft

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