Konferenzen leben von guten Referenten und so sind auch manche Bankmanager gefragte Keynote-Speaker im In- und Ausland. Mitunter werden sie dabei vor größere Herausforderungen gestellt als in ihrem eigentlichen Job.
Es war tiefe, pechschwarze Nacht, als Günthers Wecker klingelte.
Günther war ein optimistischer Mensch. Es gab nicht viel, was ihm die Laune vermiesen würde. Selbst in verzweifelten Situationen würde er noch das Gute suchen und vermutlich auch finden. Würde er heute Morgen mit nur einer Hand aufwachen, er würde denken: „Was für ein Glück, fünf Fingernägel weniger, die ich pflegen muss!“.
Zugegeben, bei sich selbst fände er die Geschichte mit der plötzlich abhanden gekommenen Hand wenig hilfreich. Doch für alle anderen hätte er den guten Tipp mit der Nagelpflege und ein paar aufmunternde Worte parat. So positiv dachte Günther.
Nur eine Sache konnte er gar nicht leiden: früh am Morgen aufzustehen!
Und wenn man ihn schon mitten in der Nacht aus dem Bett jagte, musste es dafür einen verdammt triftigen Grund geben.
Die Zukunft des Bankwesens
Heute, am 6. Mai gab es diesen guten Grund, denn heute sollte er in London vor einer Runde hochkarätiger internationale Banker über die Zukunft des Bankwesens sprechen. Wenn sie recht artig wären, würde er ihnen auch ein paar gepfefferte Vergleiche liefern, wie man heutzutage auch schlechte Nachrichten (und zurzeit gab es fast ausschließlich solche) verkraften könnte. Irgendetwas wie: wenn man mit einer Hand weniger aufwacht, dann hätte das ja auch Vorteile – siehe Maniküre!
Günther war als Top-Manager einer Regionalbank für Innovationen zuständig und ein begnadeter Vordenker und Redner. Er erkannte Trends, bevor andere überhaupt die Gelegenheit hatten, diese als unbedeutend zu verwerfen. Er drückte sich – ganz egal ob in Englisch oder Deutsch – stets eloquent und klar verständlich aus. In internationalen Expertenrunden war er ein gefragter Teilnehmer und glänzte mit fachlichem Input.
Gefragter Keynote-Speaker
Natürlich führte diese Beliebtheit dazu, dass Günthers Terminkalender dicht gedrängt war. Heute ein Symposium in London, morgen als Keynote-Speaker in Paris, übermorgen war er der Leiter einer Arbeitsrunde in Madrid.
Dafür nahm er auch in Kauf, zu nachtschlafender Zeit aufzustehen, sich ins Auto zu setzen und zum Flughafen zu fahren. Selbst wenn der Flug an sich nicht allzu lange dauern würde, die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen nahmen doch einige Zeit in Anspruch. Nichts Schlechtes, was auch etwas Gutes hätte (siehe Fingernägel): er hatte ausreichend Zeit, sich intensiv mit der Arbeitsmappe zu befassen, die ihm seine Assistentin Claudia zusammengestellt hatte.
Auch Experten brauchen Unterstützung
Claudia war Günthers persönliche Assistentin und als solche organisierte sie ihren Chef mehr oder weniger klaglos. Die Brünette mit dem burschikosen Haarschnitt war stets – auch im Winter – einen Tick zu braun gebrannt, liebte Motorräder, Tennis und lange Urlaube mit Freundinnen. Sie war eine jener Personen, die glaubten, immer Recht zu haben (2+2 ist 5, okay!) und schwer mit eigenen Fehlern umgehen konnten. Und sollte das doch einmal passieren, beendete Claudias berühmtes „Hoppala!“ die Diskussion.
Günther hasste Claudias „Hoppalas“, denn für ihn bedeuteten sie normalerweise, dass irgendetwas vergessen, verlegt oder verloren wurde und er improvisieren musste. Nach solchen „Hoppalas“ wusste er, dass er auf sich allein gestellt war.
Auf dem Weg nach London
„Aber heute, was sollte heute noch schiefgehen?“, dachte er, als er sicher den Flughafen erreichte. Er hatte sein Ticket (nach London, gecheckt!), er hatte seine Unterlagen und Redenotizen (mit Einleitungswitz, gecheckt!), er würde in Heathrow ankommen und genügend Zeit haben, in die City zu kommen (Pfundnoten und Kreditkarten dabei, gecheckt!).
Das Flugzeug landete planmäßig in Heathrow und er erreichte problemlos den Zug in die City. Günther war sich nun sicher, dass dies ein guter Tag werden würde. Die Sonne schien, seine Key-Note war wohl vorbereitet und er selbst – trotz der langen Anreise und des frühen Aufstehens – in Topform. Er würde witzig und eloquent in seiner Rede der Branche einen Spiegel vorhalten und dem Publikum den einen oder anderen gut gemeinten Rat mit auf den Weg geben.
Wie bei jedem begabten Redner stellte sich auch bei Günther eine gewisse Spannung ein, als er den Veranstaltungsort in Londons Bankenviertel erreichte. Er würde nun gleich alte Freunde treffen, mit netten Kolleginnen und Kollegen plaudern und dann einen fulminanten Auftritt hinlegen. Er stellte sich vor, wie er nach seinem Auftritt gefeiert werden würde, wie man ihm auf die Schulter klopfen und ihn beglückwünschen würde. Heute würde es sein Tag werden, auch wenn er gleich nach seinem Vortrag wieder ins Flugzeug steigen und zum nächsten Termin eilen musste.
Hoppala
Günther checkte den Terminplan auf seinem Smartphone, der von Claudia gepflegt wurde und stellte fest, dass er auf die Minute pünktlich beim Veranstaltungsort angekommen war. Er stieg beschwingt die Stufen zum Eingang empor und rückte die Krawatte zurecht, als er plötzlich vor einer verschlossenen Türe stand.
War er etwa zu früh? Tatsächlich hatte er sich schon gewundert, warum er sich nicht in einem Strom von Besuchern zum Eingang durchkämpfen musste, sondern allein in der Gegend herumstand. Keine Plakate, die ihn und die Veranstaltung ankündigten, keine Gäste, keine bekannten Gesichter.
Die aufsteigende Nervosität zwang Günther Routinehandlungen auf: Doppelcheck am Smartphone: er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Banker sind ein lautes Völkchen: wäre heute und hier ein Banker-Kongress, man würde es mit Sicherheit bemerken.
Mit zittrigen Fingern drückte Günther die Schnellwahltaste, die ihn mit seiner Assistentin verband. Trotz der frühen Morgenstunde – es war knapp vor 10 – war Claudia sofort am Telefon.
„Bitte?!“, presste sie in den Hörer, wobei sich Günther fragte, ob es sich um eine missglückte Einladung oder um eine gelungene Abschreckung bei dieser Begrüßung handeln würde.
„Claudia! Ich steh hier in London vor dem Veranstaltungszentrum und niemand ist da! Der Termin war doch der 6.5., oder?“
„Na aber selbstverständlich.“, hörte Günther aus dem Smartphone die weibliche Stimme bellen. „Ich habe die Einladungs-Mail ganz groß vor mir auf dem Bildschirm. 06.05., also heute!“
„Die Einladung ist in englischer Sprache?“, fragte Günther, die Antwort wohl wissend und erkennend, dass der 5. Juni gemeint war.
„Hoppala!“, hörte der Manager, dann war die Verbindung tot.