Die Verlängerung unserer Lebensarbeitszeit ist ein Thema, das derzeit wieder in aller Munde ist. Doch nicht überall scheinen ältere Mitarbeiter willkommen zu sein. Auch in der Finanzbranche zählt Erfahrung immer weniger und Wertschätzung sucht man oft vergebens.
Methusalem – Kennern des Alten Testamentes als ein Urvater vor der Sintflut bekannt, wurde angeblich 969 Jahre alt. Zugegeben, nach heutigen Maßstäben ist das ein ziemlich langes Leben. Eines, das unsere derzeitigen Renten- und Gesundheitssysteme überfordern würde.
Aber: selbst wenn die moderne Medizin und ein absolut gesunder Lebenswandel es ermöglichen würde, dass wir bald alle unseren einhundertsten Geburtstag erleben – die Lösung ist da.
Arbeiten bis 75?
Wir arbeiten einfach alle länger. Und zwar wesentlich länger als bisher. So bis 70 oder 72. Vielleicht auch bis 75, wer weiß? Politiker und Wissenschaftler, die ein Versagen des Generationenvertrages für unsere Renten und eine Überlastung unseres Wohlfahrtsstaates befürchten, sehen in der Anhebung des Rentenalters ein Allheilmittel erster Wahl.
Natürlich wäre auch die Wirtschaft hoch erfreut darüber, länger auf die bestehenden Arbeitskräfte zugreifen zu können.
Oder etwa nicht?
Ein Blick ins Ausland
Nun, in den Vereinigten Staaten funktioniert das System. Unvergesslich für mich bleibt ein Besuch einer internationalen Bankenmesse in Boston, bei der greises Security-Personal die Besucherströme lenkte.
Eine gut 80jährige Dame in schlechtsitzender Uniform stand am Ende einer Rolltreppe und wies den herbeiströmenden Massen hilfreich den Weg.
„This way, Sir. Please keep to the left!“, ordnete sie an und als gut erzogener Mensch widersetzte ich mich ihren Anordnungen nicht, auch wenn ich sehnsüchtig zu den Toiletten blickte, die genau in der anderen Richtung lagen.
Ich war jung und meine Blase würde einen einstündigen Vortrag über die neuesten XML-Formate schon aushalten.
Obwohl…
Zu jener Zeit zählte ich – in alttestamentarischer Zeitrechnung unglaublich junge, geradezu juvenile – 52 Lenze. Methusalem hätte mich wohl gefragt, ob ich schon Laufen und Sprechen kann. Nun, was soll ich sagen: ich lief und sprach (auch in fremden Zungen).
Banken setzen auf Jugend
Und ich machte als Banker die Erfahrung, dass sich meine Bank zusehends verjüngte. Kolleginnen und Kollegen in meiner Alters- und Einkommensklasse wurden verstärkt biblischen Verlockungen ausgesetzt. Die Schlange erschien in Form der Personalabteilung – oder Neudeutsch HR genannt – und hielt ihnen einen goldenen Apfel vor die Nase.
„Na, willste?“, fragte sie mit gespaltener Zunge und winkte verführerisch mit einem Abfertigungsangebot, dem Golden Handshake.
Tatsächlich aßen nicht wenige von diesem Apfel im unerschütterlichen Vertrauen, dass sie ja noch gar nicht so alt sind, und am Arbeitsmarkt sicher schnell einen adäquaten Job finden werden. Es redeten doch alle davon, dass die Wirtschaft händeringend Fachkräfte suchte und man bis ins hohe Alter produktiv sein sollte.
Nun, die Tinte auf dem Vertrag war trocken, die Schlange war zum nächsten Best Ager weitergezogen und die ehemaligen Banker warfen sich voller Elan auf den Arbeitsmarkt.
Erfahrung und Wertschätzung
Mehr oder weniger um zu erkennen, dass sie niemand wollte. Zumindest nicht in den Positionen, die sie innehatten. Zumindest nicht um das Gehalt, das sie einst verdient hatten. Das Asset „Erfahrung“ wiegt wenig im Vergleich mit dem fortgeschrittenen Alter.
Natürlich gibt es die berühmten Ausnahmen, die sind aber wirklich, wirklich selten. Nur um es klarzustellen: es geht dabei (meist) nicht vorrangig um Geld. Es geht um Wertschätzung. Darum, produktiv zu sein und seinen Platz in der Gesellschaft zu haben.
Viele Ex-Banker machten sich auf die Suche nach jenen Jobs, die sie ihrer Meinung nach verdienten. Viele suchten jahrelang und fanden heraus, dass niemand auf sie gewartet hatte. Nicht wenige verdingten sich als Consultants und verließen wochentags Heim und Herd, um in fremden Städten ihr Knowhow weiterzugeben. Andere gründeten ihre eigene Beratungsfirma und nutzten ihre Netzwerke, um Kunden an Land zu ziehen. Wieder andere schulten um und wurden Lehrer, Pflegekräfte, Barista oder Weinhändler.
Am Ende bleibt nicht die Frage, ob wir bis ins hohe Alter arbeiten wollen, sondern ob die Wirtschaft ältere Arbeitskräfte zu akzeptieren bereit ist.
„This way, Sir!“ Die Seniorin in Uniform machte in Boston unaufgeregt ihren Job. Höflich, korrekt und emotionslos. Würde sie auch heute noch am Ende der Rolltreppe stehen? Zehn Jahre später?
Wer weiß?