Wenn der Staat seine originären Aufgaben nicht hinreichend wahrnimmt, schwindet das Vertrauen der Bürger. Zunehmende Staatsverdrossenheit gefährdet die freiheitlich demokratische Grundordnung. Das betrifft die öffentlichen Systeme ebenso wie Wirtschaft und Energieversorgung.

Staatsverdrossenheit gefährdet die freiheitlich demokratische Grundordnung

Zunehmende Staatsverdrossenheit gefährdet die freiheitlich demokratische Grundordnung.

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Mit äußerst gemischten Gefühlen ist Deutschland in das neue Jahr durchgestartet. Düsteren Prognosen wie einem drohenden Wohlstandsverlust, dauerhaft hohen Energiepreisen, anhaltender Inflation und eine zumindest partielle Deindustrialisierung stehen scheinbar erste konjunkturelle Entspannungssignale gegenüber.

So geht das ifo-Institut (derzeit) nur noch von einer leichten Winterrezession aus: Danach soll das BIP 2023 lediglich um 0,1 Prozent zurückgehen. Für 2022 meldet das Institut ein Wachstum von 1,8 Prozent. Auch die Teuerung, die voriges Jahr bei 7,8 Prozent lag, werde sich 2023 auf 6,4 Prozent abschwächen.

Dagegen rechnet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für das laufende Jahr mit einem Minus der Wirtschaftsleistung um 0,75 Prozent. Verglichen mit den Prognosen vor dem Krieg in der Ukraine werde das reale BIP um fast 5 Prozent niedriger ausfallen. Die Weltwirtschaft werde 2023 nur noch um 2 Prozent zulegen. Bei den mittelständischen Unternehmen sind die aktuellen Geschäftserwartungen für die nächsten sechs Monate auf ein historisches Tief gefallen. 53 Prozent der befragten Betriebe rechnen mit einer weiteren Verschlechterung. Die Energiekosten haben den Fachkräftemangel als größtes Problem abgelöst. Auf Platz 3 der Problemfelder rangieren die hohen Rohstoff- und Materialkosten.

„Fundamentale Umwälzungen“

Die Gefahr einer Deindustrialisierung nimmt offenbar weiter zu. Der BDI-Präsident sieht zahlreiche „Handicaps“ und warnt vor abnehmender Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland. Der DIHK rechnet mit einer wachsenden Verlagerung von Produktion ins Ausland. Der DGB setzt die Sicherstellung wettbewerbsfähiger Industriestrompreise ganz oben auf die Gesprächsagenda mit der Bundesregierung. Die DGB-Chefin befürchtet: „Je tiefer die Schnitte in die Wertschöpfungskette werden, je mehr Unternehmen Deutschland verlassen, desto dramatischer wird der Dominoeffekt sein.“ Und der Vorsitzende der Gewerkschaft IG BCE fordert „eine rundum neu entwickelte Industriepolitik für Deutschland und Europa“. Nur so könne man weitere Abwanderungen nach China oder in die USA verhindern. Zum Vergleich: Die Strompreise in Amerika liegen 80 Prozent unter denen in Deutschland. Gas kostet dort nur ein Siebtel.

Um Deutschland fit zu machen für den weltweiten Standortwettbewerb, fordert der DIHK die Beseitigung bürokratischer Hemmnisse und die Beschleunigung der Planungsverfahren. Auch der BDI beanstandet die Langsamkeit in der Genehmigungspraxis. Außerdem seien die Unternehmenssteuern im internationalen Standortwettbewerb zu hoch. Es braucht mehr steuerliche Anreize für Investitionen in Deutschland.

Weiter heißt es: „Die Energiepreise sind überfrachtet mit Steuern und Abgaben. Das können wir uns nicht mehr leisten im globalen Wettbewerb. Die aktuelle Krise ist nicht nur eine kleine Konjunkturdelle. In der grünen und digitalen Transformation gibt es für die Regierung immense Aufgaben zu erledigen.“ So soll die Bundesregierung ein umfassendes Bürokratieentlastungsgesetz umsetzen.

Allen Beschönigern der aktuellen Lage sollte zu denken geben, dass Deutschland – nach einer neuen Studie der Beratungsgesellschaft EY – erstmals nicht mehr unter den 100 wertvollsten börsennotierten Unternehmen der Welt vertreten ist. Im Jahr 2008 gehörten noch 8 deutsche Konzerne diesem elitären Kreis an. EY kommentiert diesen Absturz so: „Wir sind bislang den Beweis schuldig geblieben, dass Deutschland die Weltwirtschaft der Zukunft entscheidend mitgestalten wird und auch in der digitalen Wirtschaft von morgen ein wichtiges Wort mitzureden hat. Wir erleben fundamentale Umwälzungen – wobei die Regeln derzeit von amerikanischen und asiatischen IT-Konzernen gemacht werden und der Eindruck entsteht, dass Europa nur von der Seitenlinie aus zuschaut.“

„Bananenrepublik Deutschland“?

Unter der provokanten Headline „Willkommen in der Bananenrepublik Deutschland“ befasst sich die Brüsseler Korrespondentin der „Wirtschaftswoche“ mit dem vielgestaltigen strukturellen Niedergang in der Bundesrepublik. Ihr Geburtsland sei dabei, den Anschluss zu verlieren. Sie begründet diese These mit Beispielen aus Infrastruktur, Digitalisierung, der fehlenden Behörden-Effizienz und dem Verkehrsbereich.

In dasselbe Beschwerdehorn bläst der „Focus“ mit einem Beitrag unter der Überschrift „Ein Land funkt SOS – Deutschland an der Belastungsgrenze“. Der Autor fächert eine breite Palette an organisatorischen Defiziten und faktischen Schwachstellen auf, mit denen sich die große Mehrheit der Bevölkerung achselzuckend abzufinden scheint.

Erschreckend ist in der Tat, inwieweit Laissez-faire-Mentalität, Realitätsverweigerung und Staatsversagen hierzulande zu einer „neuen“ Normalität geworden sind. Nahezu willkürlich listet der „Focus“ gravierende Missstände und Systemausfälle auf, die den Lebens- und Arbeitsalltag der Bürger zum unkalkulierbaren Vabanque-Spiel werden lassen.

Als Beispiele werden die immer noch bestehenden Funklöcher im Mobilfunknetz, der desolate Zustand vieler Autobahn-Brücken und das chaotische Leistungsangebot der Deutschen Bahn ebenso genannt wie schwerwiegende Mängel in Kitas, Schulen und Krankenhäusern. Abgerundet wird das offensichtlich unlimitierte Krisen-Szenario durch Ausrüstungsdefizite bei der Bundeswehr, Bevorratungslücken bei Apotheken, Heizungsprobleme in öffentlichen Gebäuden, bürokratische Digitalisierungs-Verweigerungen und Überlastungen des Stromnetzes. Die zunehmende Verlotterung staatlicher und halbstaatlicher Strukturen mag vielerlei Ursachen haben. Als ein kausaler Zusammenhang drängt sich die Vermutung auf, dass ehemals typisch „deutsche Tugenden“ wie Pflichtbewusstsein, Mitverantwortung, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in vielen Bereichen längst durch Untugenden wie Desinteresse, Leistungsverweigerung, Wunschdenken und Belanglosigkeit verdrängt worden sind. Mit dieser Mentalität wäre nach dem Zweiten Weltkrieg kein deutsches Wirtschaftswunder möglich geworden.

Vertrauenskrise

Wenn der Staat offensichtlich nicht mehr liefert, kann nicht überraschen, dass das Vertrauen der Bürger in bundespolitische Institutionen im Laufe des Jahres 2022 stark zurückgegangen ist. Das neue ntv-Trendbarometer spiegelt vor allem für den Bundeskanzler und die Bundesregierung dramatische Einbußen von 24 Prozent bzw. 22 Prozent wider. Zum Bundestag haben danach nur noch 37 Prozent, zur Bundesregierung nur noch 34 Prozent und zum Bundeskanzler nur noch 33 Prozent „großes Vertrauen“.

Wenn allgemeine Politikverdrossenheit umschlägt in pauschale Verachtung und Ablehnung gegenüber „dem System“, dann gerät das Fundament der Demokratie ins Wanken. Auch bei Staatsbürgern gibt es offenbar das Phänomen der inneren Kündigung. Wer sich politisch heimatlos fühlt, bei dem dürfte sich das Engagement für sein Heimatland in Grenzen halten. Gegenwärtig wird die mentale Abwärtsspirale aus Resignation und Verweigerung durch die politische Klasse eher beschleunigt als gebremst. Mittelfristig droht diese Entwicklung außer Kontrolle zu geraten.

Deutschland braucht einen faktischen und psychologischen Aufbruch zu neuen Ufern. Zunächst muss das Vertrauen in die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit des Landes ohne Rücksicht auf von Political Correctness abgesteckte Tabuzonen wieder hergestellt werden. Dazu gehört vor allem die Rechtssicherheit, dass der Staat vertragliche Verpflichtungen und Gesetze nicht nach Belieben über Bord wirft, wenn die Verfolgung „höherer“ Ziele wie die Masseneinwanderung und die Euro-Rettung dies angeblich erfordert.

Multiples Staatsversagen und anhaltende Kontrollverluste können in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht als latenter Dauerzustand geduldet werden. Das Land muss zurück zum geltenden Recht. Das gilt vor allem für die Verhinderung rechtsfreier Räume in den Großstädten und die Einhaltung der EU-Verträge von Schengen, Dublin, Maastricht und Lissabon. Und das gilt auch für den Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung. Es ist mehr als fatal, wenn sich der Deutsche Bundestag bei eilbedürftigen Entscheidungen zum willfährigen Akklamationsorgan denaturieren lässt oder das Bundesverfassungsgericht seine staatspolitische Verantwortung zum Europäischen Gerichtshof verlagert.

Mit anderen Worten: Der Staat muss in allen existenziellen Bereichen seine originären Aufgaben erfüllen, er muss wieder liefern. Eine Regierung, die weiterhin überfällige Zukunftsgestaltung mit Ersatzhandlungen auf dem Feld von Betroffenheits-Symbolik verwechselt, sollte sich – frei nach Brecht – ein anderes Volk suchen.

Der Weg aus der Stagflation

In seiner „Weihnachtsvorlesung 2022“ hat Prof. Hans-Werner Sinn die Stagflation und die Energiekrise als derzeit größte Herausforderungen für Deutschland aufgezeigt und konkrete Lösungswege gewiesen. Die Veranstaltung stand unter dem griffigen Motto  „Schwarze Schwäne – Krieg, Inflation und ein energiepolitischer Scherbenhaufen“. Die Geldentwertung sei kein rein europäisches Phänomen, sondern habe tiefere Ursachen. Die weltweiten Lieferketten seien durch Pandemie und Quarantäne blockiert worden, was zum Fehlen der Vorprodukte und zum Sinken der Angebote geführt habe.

Gleichzeitig habe die Geldmenge, die sich infolge der „Staatsfinanzierung aus der Druckerpresse“ von 2008 bis 2022 versiebenfacht hat, das Problem verstärkt. So sei die Nachfrage nach Konsumgütern bei knappem Angebot wie nie zuvor in der Geschichte gewachsen. Inflation sei die unvermeidliche Folge. Nun werde durch hohe Lohnsteigerungen eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt. Weil durch den demografischen Wandel vielerorts Arbeitskräfte fehlen und das Bürgergeld den Arbeitsanreiz weiter senke, drohe sich das Angebot weiter zu verknappen.

Nimmt der Staat dann noch durch Sondervermögen Milliardenschulden auf, um Menschen zu unterstützen, befeuere er die Nachfrage mit frisch gedrucktem Geld weiter. Sinn prognostiziert: „Das alles spricht für ein fortgesetztes stagflationäres Szenario in diesem Jahrzehnt.“ Um die Lage in den Griff zu bekommen, plädiert der frühere ifo-Präsident für eine grundlegende Reform des Euro-Systems. Die EZB müsse die Staaten durch steigende Zinsen zur Ausgabenkontrolle zwingen. Andernfalls würden sich die Schuldenexzesse der Länder fortsetzen. Damit die Preisstabilität wieder oberstes Euro-Ziel werde, sollten die Stimmrechte im EZB-Rat nach Landesgröße vergeben werden. Intern müsse Deutschland das Grundgesetz nachschärfen, um den Regeln widersprechendes Verhalten – wie z. B. als Sondervermögen getarnte Milliardenschulden – auszuschließen. Würde hierzulande volkswirtschaftlicher Sachverstand die Politik bestimmen, wäre die Umsetzung von Sinns Konzept tatsächlich „alternativlos“.

„Kranker Mann Europas“?

Im zweiten Teil seiner „Weihnachtsvorlesung 2022“ befasste sich Prof. Sinn mit den Ursachen und Folgen der Energiekrise. Der Ukraine-Krieg habe gezeigt, dass „grüne Flatterenergie“ andere Kraftwerke brauche, um Dunkelflauten zu überstehen. Wegen des Doppelausstiegs aus Kohle- und Atomstrom bleibe Gas die einzige Option Deutschlands. Der auch international renommierte Wissenschaftler weiter: „Damit ist die grüne Energiewende ein Scherbenhaufen. Das funktioniert überhaupt nicht.“ Energiehilfen könnten das Problem nur kurzfristig kaschieren.

Langfristig fehle jedoch eine Lösung, zumal sich der Stromverbrauch vervier- oder verfünffachen dürfte, wenn die chemische Industrie auf Gas verzichten solle und die Menschen hierzulande ihre Autos elektrisch fahren sowie ihre Häuser elektrisch heizen wollten. Damit Deutschland kurzfristig überlebe, seien neue Gas-Pipelines nach Norwegen, Großbritannien, Algerien und Israel, wesentlich mehr Gasspeicher, Flüssiggas aus Übersee, Fracking in Deutschland und die sofortige Aufhebung der Kohle- und Atomverbote erforderlich. Neue Technologien wie die Kernfusion seien frühestens in einem Jahrzehnt verfügbar. Bis dahin müsse Deutschland überleben und daher pragmatische Entscheidungen treffen. Gefordert sei Verantwortungs-Ethik statt Gesinnungs-Ethik, also „kluge, abwägend rationale Politik, ohne dabei alles kaputt zu machen und Träumen hinterherzurennen“.

Als Negativbeispiel für eine falsche Politik, die der Bundesrepublik schade, ohne den Klimawandel zu bekämpfen, nannte Sinn das Aus für Verbrennungsmotoren. Das zerstöre die Wettbewerbsvorteile deutscher Autobauer, die wegen ihrer umfangreichen Metallindustrie Verbrenner besser bauen könnten als andere Hersteller. Bei E-Autos „mit vielen Spielereien“ hätten Chinesen und Amerikaner die Nase vorn. Infolge dieses selbst verschuldeten Problems für die wichtigste deutsche Industriebranche zeige das verarbeitende Gewerbe bereits zunehmende Schwächen.

Vor diesem Hintergrund stellte der Volkswirt die rhetorische Frage: „Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?“ Zum globalen Klimawandel merkte Sinn an, dass die derzeitigen Klimakonferenzen zu Schadensersatz-Runden verkämen, statt das eigentliche Problem zu lösen. Erfolgsversprechender sei die Einbindung der großen Länder in einen globalen Klimaclub.

Der in seiner gesamtheitlichen Ausrichtung außerordentlich kompetente und überzeugende Vortrag steht online zur Verfügung unter www.ifo.de/mediathek/2022-12-12/schwarze-schwaene-krieg-inflation-und-ein-energiepolitischer-scherbenhaufen-0. Am Ende seiner Ausführungen hat Prof. Sinn übrigens eher beiläufig wissen lassen, dass seine „Weihnachtsvorlesung 2022“ die letzte dieser Veranstaltungsreihe gewesen sei. Und er hat Prof. Clemens Fuest, seinen Nachfolger als ifo-Präsident, coram publico aufgefordert, diese für viele Zeitgenossen zur Kult-Vorlesung gewordene Tradition fortzusetzen.