Deutschland im Herbst: Die Zersplitterung der Parteienlandschaft wird die politische Stabilität der Nachkriegszeit schwächen und das Land verändern. Befeuert wird die Vertrauenskrise durch immer neue europäische Ungereimtheiten.
Der Niedergang der Volksparteien
Die ehemaligen Volksparteien sind dabei, ihre vermeintlich angestammten Platzhirsch-Positionen unwiederbringlich zu verspielen. Sie lassen kaum eine Gelegenheit aus, um bisherige Anhänger zu anderen Parteien oder in das Lager der Nichtwähler zu treiben. Hauptursächlich für die fortschreitende Abwanderung ist nicht nur das erschreckend schwache Führungspersonal, sondern auch die offenkundige Unfähigkeit, die den Bürgern auf den Nägeln brennenden Probleme auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu lösen. Gerade in Wahlzeiten scheint bei den GroKo-Parteien operative Hektik geistige Windstille zu ersetzen. Man tut nicht mehr das, worauf es ankommt, sondern das, was – vermeintlich – ankommt. Die vorgespielte Tatkraft entpuppt sich als wohlfeiler Regierungs-Aktionismus. Aktuelle Beispiele sind mit heißer Nadel gestartete „Initiativen“ wie das Zuwanderungsgesetz oder das Aktionspaket zur Vermeidung von Dieselfahrverboten, das schon zur Makulatur geworden ist, bevor die Tinte trocken war. Abgesehen davon ist bei dieser reaktiven Politik stets ein erheblicher Nachbesserungsbedarf programmiert.
Die Bürger verfolgen den Niedergang der Volksparteien mit gemischten Gefühlen. Einerseits erscheinen handfeste Quittungen für die fortgesetzte Missachtung der Wähler-Prioritäten geboten und überfällig. Andererseits ist die Sorge nicht unberechtigt, dass mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft auch die politische Stabilität der Nachkriegszeit dauerhaften Schaden nimmt. Dies kann dazu führen, dass die Mehrheitsfähigkeit in Gestalt funktionierender Koalitionen abhandenkommt. Am Horizont droht die Gefahr der strukturellen Unregierbarkeit. Gerade dieses Risiko wollten die Väter des Grundgesetzes durch das von den Negativerfahrungen der Weimarer Republik geprägte Wahlrecht mit der 5-Prozent-Klausel minimieren. Sollte es perspektivisch sieben oder mehr Parteien im Korridor zwischen 5 und 20 Prozent geben, dürfte der Ruf nach der Einführung des Mehrheitswahlrechts laut werden.
In 50 Jahren werden Historiker fragen, wie es dazu kommen konnte, dass sich die „Volksparteien“ zum Ende der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts als von allen guten Geistern verlassen erwiesen haben. Und wahrscheinlich werden sie zu dem Schluss kommen, dass die tiefgreifende Vertrauenskrise sehr viel zu tun hatte mit dem zunehmenden Gefühl in der Bevölkerung, dass der Staat nicht mehr geliefert hat. Eine irrlichternde Regierung, die sich den Realitäten verweigert und ihre politische Bringschuld sträflich vernachlässigt, vergibt ihre Legitimation und gefährdet den Fortbestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
„Asymmetrische Korrekturen“
Die zuletzt latent schwelende Euro-Krise könnte schon bald in einer bisher nicht gekannten Dimension wieder aufflammen. Die neue italienische Regierung ist dabei, ihr Erpressungspotenzial gegenüber der EU und den nördlichen Mitgliedsländern kühl kalkuliert auszuspielen. Um die maßlosen Wahlversprechen finanzieren zu können, will Rom das Haushaltsdefizit kräftig erhöhen und alle Vereinbarungen brechen, die Voraussetzung dafür waren, dass Europa im Rettungsfonds ESM Garantien für italienische Staatsschulden übernommen hat. Dieser eklatante Vertragsbruch wird von dem Vizepremier damit gerechtfertigt, dass die Regierung ihren Wählern verantwortlich sei, „nicht aber den Brüsseler Bürokraten.“
Derzeit ist weder in der EU-Kommission noch in Brüssel ernsthafter Widerstand gegen diese rücksichtslose Willkürpolitik erkennbar. Den zaghaften Hinweis der EU-Kommission, der Budgetentwurf weiche von den Vorgaben ab, hat der Chef der Fünf-Sterne-Bewegung zum Anlass genommen, den Kritikern „Terrorismus auf den Märkten“ vorzuwerfen und Schadensersatz zu fordern. Und der italienische Finanzminister hat angekündigt, „die Währungsunion mit ganz neuen Vorschlägen voranzutreiben“. Dabei müssten die makroökonomischen Ungleichgewichte der Mitgliedstaaten auf asymmetrische Weise korrigiert werden, indem jene Länder herangezogen werden, die Überschüsse in der Leistungsbilanz und im Haushalt haben.
Mit anderen Worten: Man fordert einen institutionalisierten Haushaltsausgleich zugunsten der südeuropäischen Schuldenländer. Letztlich soll also der deutsche Steuerzahler, dessen privates Durchschnittsvermögen unter dem der italienischen Bürger liegt, das finanzpolitische Chaos südlich der Alpen mitfinanzieren.
„Arroganz der Macht“
Die EZB hat bekanntlich für 2,6 Billionen Euro Wertpapiere gekauft, davon für 2 Billionen Euro Staatsanleihen. Namhafte deutsche Kläger sehen darin eine unzulässige Staatsfinanzierung, die hochverschuldete Staaten begünstige und deren Finanzierungsbedingungen verbessere. Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) , dem die Klage zur Entscheidung vorliegt, hat in einem mehr als rabulistischen Gutachten kundgetan, dass er die Klage für unbegründet halte. Entscheidend sei, dass die EZB die Papiere nicht direkt von den Schuldenländern erwerbe, sondern am Sekundärmarkt.
Der EuGH dürfte dieser Empfehlung – wie üblich – folgen und die Klage abweisen. Zur Vorgeschichte: Das Bundesverfassungsgericht, das 2017 „gewichtige Gründe“ für die Annahme einer verbotenen Staatsfinanzierung sah, hatte die Verfassungsbeschwerden zur europarechtlichen Prüfung an den EuGH weitergeleitet. Der Marburger Rechtsprofessor Hans-Detlef Horn hat das Gutachten des EU-Generalanwalts – in ungewöhnlicher Deutlichkeit – als „oberflächlich und undifferenziert“ bezeichnet. Sein Freiburger Kollege Dietrich Murswiek spricht von „der Arroganz der Macht der EU-Organe“. Nicht zu bestreiten sei, dass die Staatsanleihenkäufe der EZB in Billionenhöhe zur Finanzierung der Eurostaaten diene. Die EZB sei zum größten Gläubiger der Mitgliedsländer geworden. Die „Wirtschaftswoche“ kommentiert: „Das Vertrauen in die einst feierlich gelobten Regeln der Währungsunion kann diese lapidare Rechtfertigung der monetären Staatsfinanzierung nicht wiederherstellen. Das ist ein für alle Mal im Eimer. Man braucht nur wenig wirtschaftlichen Sachverstand um zu ermessen, was das bedeutet.“
„Einlagensicherung“
Die deutsche Ablehnung einer europäischen Einlagensicherung scheint zu bröckeln. Die Bundesregierung stand der Vergemeinschaftung südeuropäischer Bankschulden – im Einklang mit einer großen Bevölkerungsmehrheit – bisher ablehnend gegenüber. Umso erstaunlicher ist, dass sich – laut FAZ (09/2018, Nr.227) – kürzlich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) für eine gemeinsame Einlagensicherung ausgesprochen hat, weil sich so im Krisenfall ein chaotischer Abzug von Bareinlagen verhindern lasse. Auch die Deutsche Bank artikuliert sich plötzlich – aus welchen Gründen auch immer – als Anhänger „einer Vollendung der Bankenunion.“ Dagegen warnt ein Sprecher der Volksbanken „vor enormen Gefahren für die deutschen Sparer“. Die italienischen und griechischen Banken seien die schwächsten Glieder. In Griechenland gelte fast jeder zweite Kredit als notleidend, in Italien fast jeder zehnte. Der Volksbanker weiter: „Die EU-Einlagensicherung bestraft alle jene Staaten, die ihre Bankrisiken im Griff haben, und belohnt all jene Länder mit Transferzahlungen, die wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen begangen haben“. Worauf der Meinungswandel der deutschen Befürworter einer europäischen Einlagensicherung zurückzuführen ist, gibt Anlass zu vielfältigen Spekulationen.