Wirtschaft und Gesellschaft sind mit einer multiplen Krisenlage konfrontiert. Das hat erhebliche Auswirkungen auf das Risikomanagement der Banken in 2023. Zwei Risiken stechen dabei besonders hervor, denen es in geeigneter Form zu begegnen gilt.
Die geopolitischen Krisen und die nach wie vor bestehenden Auswirkungen der Pandemie bestimmen immer stärker die wirtschaftliche Entwicklung. Die Rahmenbedingungen für die europäische und deutsche Wirtschaft haben sich mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine erneut grundlegend geändert. Energiesicherheit sowie globale Nahrungsmittelversorgung sind aktuell die drängendsten Probleme. Zudem wird es weiterhin darum gehen, Antworten auf die Klimaerwärmung und das Artensterben zu finden, und mit der daraus folgenden zunehmenden Migration verantwortungsvoll umzugehen.
Das Besondere an der aktuellen Risikolage ist: Wir sind gerade mit mehreren großen Krisen gleichzeitig konfrontiert, die sich dazu überlappen und auch gegenseitig verstärken. Das führt dazu, dass Sektoren und Industriezweige, die sich bislang nahezu unabhängig voneinander entwickelten, plötzlich voneinander abhängen. Aufgrund der genannten Themen bei höheren Risiken und weniger Stabilität. Die Risikolage wird damit immer komplexer und unberechenbarer.
Wie werden uns diese Risiken im Jahr 2023 beschäftigen, wie können wir ihnen begegnen? Das werde ich im Folgenden anhand von zwei Risiken, einer Herausforderung und einer Hoffnung und schließlich einer persönlichen Forderung thematisieren.
Von sprunghaften Korrelationen und schwindender Resilienz
Zwei Risiken sind dabei zu betrachten. Zum einen sind es sogenannte „sprunghafte oder erratische Korrelationen“: Ausgelöst durch ein drohendes oder bereits eingetretenes Ereignis korrelieren auf einmal zuvor kaum miteinander in Verbindung stehende Risiko-Exposures stärker miteinander. Zum Beispiel würde in der aktuellen Energiekrise eine notwendige Gasrationierung sowohl in der Stahlindustrie wie im Brauereiwesen zu Produktionseinschränkungen führen. Damit korrelierte plötzlich eine zyklische Branche mit einer eher nicht zyklischen.
Klima im Blickpunkt
Aber auch beim Thema Klima ist dies zu beobachten: Dürren und fehlende Niederschläge – wie im vergangenen Sommer – wären mit Ernteeinbrüchen in der Landwirtschaft und gleichzeitig Niedrigständen auf den Wasserwegen verbunden. Der Transport und die Versorgung z.B. der Chemischen Industrie mit notwendigen Grund- und Rohstoffen würden damit blockiert. Zugleich wäre durch die erschwerte Kühlung von Kernkraftwerken auch die Energieversorgung beeinträchtigt, mit weiteren Folgen für die wirtschaftliche Wertschöpfungsketten. So würde Deutschland zeitweise zum Energielieferanten für den Nachbarn Frankreich. Diese Spiralen lassen sich immer weiterführen.
Digitalisierung und Cyberattacken
Auch die zunehmende Digitalisierung zahlt hierauf ein. So gingen wir als Bank in der Vergangenheit davon aus, dass die zunehmenden Cyberattacken reine operationelle Risiken sind – und mit Kreditrisiken nur geringfügig in Verbindung stehen. Wenn aber z.B. ein großer Softwarehersteller betroffen ist, dessen Softwarelösungen zugleich auch bei den Kunden der Bank verwendet wird, würden sich gleichzeitig auch die Kreditrisiken für die Bank erhöhen.
Eine solche Krise einmal zu überstehen, ist schon eine enorme Herausforderung. Doch eine Schwachstelle – sei es bei einem Cyber-Angriff oder einer einseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit – erhöht auch immer das Risiko weiterer Angriffe und damit die Verwundbarkeit unserer Wirtschaft.
Der Sturm der Corona-Pandemie
Die weltweite Corona-Pandemie war bereits der perfekte Sturm, wenn es um Korrelationen und deren Dynamik geht. Prozesse wurden gleichzeitig und fast überall gestoppt. Was gestern noch galt, galt plötzlich nicht mehr. Wenn wir aber die Risikolage Anfang 2023 betrachten, ist man geneigt, nochmal „eins draufzusetzen“ und von „Unsicherheit größerer Ordnung“ zu sprechen. Nicht nur dass mehrere große Ereignisse im Risikomanagement zu berücksichtigen sind, auch die Modellierung der Unsicherheit selbst ist schwieriger oder unsicherer geworden – eben wegen dieser sprunghaften Korrelationen.
Es geht um Resilienz
In jedem Fall ist das Bedürfnis nach höherer Widerstandskraft der Wirtschaft nochmal deutlich angestiegen. Ein Wirtschaftssystem kann seine Resilienz zum einen aus seinen Ressourcen und Reserven schöpfen. Zum anderen aus der psychologischen Widerstandskraft der Wirtschaftsakteure – also von Haushalten, Unternehmen und dem Staat, die unsere Gesellschaft ausmachen. Und selbstverständlich gibt es auch hier Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Faktoren.
Die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, sind u.a. die Staatsfinanzen, die nach Corona jetzt einen zweiten großen Belastungstest erfahren. Allein mit staatlicher Unterstützung ist der Finanzierungsbedarf der Wirtschaft nicht zu stemmen. Zudem müssen wir mit den begrenzten CO2 Emissionen haushalten, die wir noch emittieren können, bevor wir das 1,5 Grad Ziel verfehlen. Die Kompensation der aktuellen Gasknappheit durch mehr Kohleverstromung lässt sich nicht beliebig lang fortsetzen. Unsere Resilienz nimmt auch hier ab.
Besorgniserregender ist jedoch die schwindende, kollektive psychologische Resilienz. Die Bewältigung der gegenwärtigen Krisensituation(en) erfordert ein großes Maß an Vertrauen in Regierungen, Institutionen und Entscheider, sowie Vertrauen in die Währung und Geldpolitik und nicht zuletzt Vertrauen in die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse. Erodiert dieses Vertrauen, radikalisiert sich der politische Diskurs und es kommt zu Polarisierung und Spaltung. Erforderliche Kompromissbereitschaft ist nicht mehr gegeben und anstatt Lösungen voranzubringen, treten wir auf der Stelle und Wirtschaft wie Politik stagnieren. Das beschreibt das zweite Risiko, dass wir 2023 sehen.
Die große Herausforderung liegt in der Transformation
Es geht um die nachhaltige und digitale Transformation unserer Wirtschaft aber auch unserer Gesellschaft. Für Unternehmen bedeutet das, dass sie aktuell nicht nur die kurzfristigen Folgen der Krise bewältigen, sondern gleichzeitig investieren und ihre Geschäftsmodelle grundlegend transformieren müssen. Das erfordert einen großen Liquiditätsbedarf. Wir sehen schon jetzt, dass klassische Working Capital Linien und die Inanspruchnahme von Kreditlinien deutlich ansteigen.
Das führt zu weiterer Verunsicherung. Doch auch wenn wir aktuell durch explodierende Energiepreise und die dringende Notwendigkeit kurzfristige Alternativen zu russischem Gas zu finden, zum Beispiel durch das Wiederhochfahren von Kohlekraftwerken, klimapolitisch auf den ersten Blick einen Rückschlag erleiden. Mittelfristig wird der Ukraine-Krieg die Energiewende erheblich beschleunigen. Wie es Corona bei der Digitalisierung getan hat.
Erfolgreiches Management erfordert Mut und Zuversicht
Deshalb kann neue Verunsicherung auch Ausgangspunkt für einen neuen, sich selbstverstärkenden, positiven Prozess aus Mut und Zuversicht werden. Dies gelingt, wenn durch erfolgreiches Management und gelungene Anpassungsprozesse Risiken besser beherrschbar werden und damit Schritt für Schritt besser prognostiziert, wie auch abgewogen werden können. Und wenn diese Resilienz zudem allgemein wahrgenommen wird. So können wir aus der Corona-Pandemie bereits wichtige Lehren ziehen und uns wieder mehr zutrauen und wagen.
Genau zu dieser Bildung von Vertrauen und Zuversicht müssen wir im Jahr 2023 auf allen Ebenen beitragen und unsere Handlungsfähigkeit und Investitionsbereitschaft stärken. Dazu gehört es, dass wir die zugrundeliegende Komplexität und bestehende Abhängigkeiten weiter reduzieren.
Ja, möglicherweise erleben wir in diesem Jahr eine milde Rezession. Ja, wir werden sehen, dass einige Firmen, wegen der Doppelbelastung aus Corona- und Energiekrise, die anstehenden Transformationen nicht schultern können. Die Mehrheit der Kunden aber wollen und können es, die technischen Ideen und das Kapital dafür sind vorhanden.
Die Ressourcen des Mittelstands geben Anlass zur Hoffnung
Insbesondere der global vernetzte und exportorientierte Mittelstand reagiert schnell und flexibel auf die veränderten Umstände und hat seine Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft auch in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt. Wo Handelswege nicht mehr funktionieren, suchen Firmen neue Partner in anderen Regionen der Welt und etablieren neue Handelskorridore. Sie orientieren sich weg von Russland, betrachten auch China mit mehr Vorsicht.
Near-Shoring oder Friend-Shoring sind in vielen Unternehmen bereits voll im Gange. Das belegen auch die Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Die deutschen Exporte sind im November gegenüber November 2021 sogar noch zweistellig gestiegen. Das zeigt, dass sich globale Wertschöpfungs- und Lieferketten erfolgreich neu sortieren. Dabei nimmt die Geschwindigkeit in der Adaption auf Veränderungen zu, aber ebenso das Vermögen unserer Kunden, gute Lösungen zu finden und sich zu transformieren.
Banken müssen Kunden verstehen
Als Banken kommt uns hierbei eine entscheidende Aufgabe zu: Bei der Risikobewertung der Unternehmen wird nunmehr eine noch größere Detailtiefe sowie die Einbeziehung neuer Dimensionen erforderlich. Auch um sprunghafte Korrelationen und Anfälligkeiten gegenüber gemeinsamen Risiken frühzeitig zu identifizieren. Das sind keine Informationen, die standardisiert vorliegen und in der klassischen Kreditanalyse enthalten sind.
Nur durch unsere langjährigen Beziehungen und den engen Austausch mit unseren Kunden sind wir in der Risikoanalyse in der Lage, solche Zusammenhänge zu erkennen und besser einschätzen zu können. Das Management von Umwelt- und Klimarisiken ist dabei von höchster risikostrategischer Relevanz. Deshalb sind Banken, die über ein tiefgehendes Verständnis der Geschäftsmodelle ihrer Kunden verfügen, im Rahmen der Transformation ein großer Vorteil.
Wir müssen das Potenzial des Mittelstands „entfesseln“
Zu Jahresbeginn darf man sich für das neue Jahr etwas wünschen und meine Anforderung an 2023 wäre, dass wir die Kräfte freisetzen, die unsere Wirtschaft zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Über 90 Prozent der Unternehmen in Deutschland gehören zum Mittelstand, der hier investiert, Innovationen vorantreibt und Arbeits- und Ausbildungsplätze gerade abseits der Ballungszentren schafft. Indem wir in den Mittelstand und seinen Erfindergeist investieren und ihn gleichzeitig von zu engen Vorgaben freimachen, ist er in der Lage, die unternehmerischen Antworten auf die vielen Herausforderungen zu finden und umzusetzen. Die Politik muss nur das Ziel vorgeben und den erforderlichen Rahmen setzen, ohne bereits den Weg vorzugeben. Es gibt viele Lösungswege. Die Fachkompetenz dafür liegt in den Unternehmen.
Die „Entfesselung des Mittelstands“ ist daher womöglich auch für uns Banken die wichtigste Forderung an die Politik, wichtiger noch als Forderungen, die z.B. die Bankenregulierung betreffen. Obgleich wir auch hier beachten sollten, dass Unternehmen nicht zusätzlich belastet werden, indem sich z.B. ihre Finanzierungsbedingungen verschlechtern. Aber wichtiger als die Verteidigung des Status Quo für Unternehmen ist die Erweiterung ihres Handlungsspielraums. Eine Entfesselung kann durch einen Abbau von Bürokratie und Investitionshürden erfolgen. Durch Investitionsanreize oder durch entsprechende Abschreibungsmodelle, sofern die Gewinne der letzten Jahre wieder reinvestiert werden.
Das erfordert Mut und Gestaltungswillen der Politik, bei Regulatoren und Aufsicht wie auch in den Unternehmen. Ich bin überzeugt, unsere Wirtschaft kann und wird aus dieser mit Krisenjahren beginnenden Dekade gestärkt hervorgehen: wirtschaftlich und strategisch deutlich widerstandsfähiger, nachhaltig und dennoch international gut vernetzt und verantwortungsvoll global eingebunden.
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