Um die Zusammenarbeit zwischen Justitiaren und Mitarbeitern der Sparkassen-Finanzgruppe neu zu regeln, hat die DSV-Gruppe eine zentrale, KI-basierte Plattform eingeführt. Über die Hintergründe sprach ich mit dem Group Chief Digital Officer, Dr. Sascha Theissen.
Die Vertriebsaktivitäten von Finanzinstituten erfordern seit jeher erhebliche rechtliche Unterstützung. Durch die ständig weiter zunehmende, komplexe Regulierung erhöht sich dieser Bedarf rasant weiter. Eine Vielzahl von Rechtsfragen wird trotz guter FAQs immer wieder gestellt und bindet Kapazität. Die Rechtsabteilungen kommen in dieser Lage häufig mit der Arbeit kaum noch nach. Marktseitig entstehen für Kunden wie Sparkassen so erhebliche Mehraufwände: Kundenberater müssen immer häufiger juristische Fragen abklären lassen bevor sie ihre Kunden bedienen können, was die Vertriebsdauer aufgrund von Folgeterminen erheblich verlängert.
Die DSV-Gruppe hat daher gemeinsam mit zahlreichen Sparkassen und Regionalverbänden eine neue Lösung zur digitalen Unterstützung der Rechtsberatung in der Sparkassen-Finanzgruppe konzipiert und pilotiert.
Interview mit Dr. Sascha Theissen, Group Chief Digital Officer der DSV Gruppe
Über die Hintergründe und die Motivation zu diesem innovativen Schritt habe ich mich mit Dr. Sascha Theissen unterhalten. Er ist Group Chief Digital Officer, Head of Strategy, Portfolio & Innovation Management der DSV Gruppe.
Er übt als Leiter des Bereich Strategie, Portfolio- und Innovationsmanagement die Rolle des Chief Digital Officers der DSV Gruppe aus. Zuvor war der ausgebildete Jurist und promovierte Informatiker als Strategieberater für digitale Transformation u.a. für die LBBW, Daimler und Volkswagen tätig. Das Ergreifen von Chancen und Lösen der Herausforderungen der Digitalisierung im B2B- und B2C-Umfeld kennt er zudem aus seiner langjährigen vorangegangenen Tätigkeit für die Holtzbrinck-Gruppe.
Wir beschleunigen und verschlanken Prozesse
Der Bank Blog: Herr Dr. Theißen, wie kamen Sie auf die Idee, die Rechtsberatung in der Sparkassen-Finanzgruppe digital umzusetzen?
Dr. Sascha Theißen: Der Bedarf an schneller Erledigung rechtlicher Fragen steigt seit Jahren, zusammen mit der Komplexität der Themen. Gleichzeitig beobachten wir in der Sparkassen-Finanzgruppe, dass Menschen viel Zeit mit Aufgaben verbringen, für die ihre besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht benötigt werden, die aber „irgendwie“ auch erledigt werden müssen. Als wir beim DSV gebeten wurde, einen Vorschlag für die Optimierung der Rechtsberatung in der Sparkassen-Finanzgruppe zu machen, ging bei mir gleich das Kopfkino los, wo uns KI alles helfen können sollte.
Um nicht den typischen Fehler der Entwicklung einer schönen technischen „Lösung“ komplett am Bedarf vorbei zu begehen, haben wir zunächst herausgearbeitet, wo genau der Schuh besonders drückt und der Nutzen einer anderen Lösung am größten wäre. Wir haben daher intensiv mit allen Stakeholdern aus Sparkassen und Verbänden Interviews geführt, Lösungsansätze entwickelt, verprobt, verworfen und weiterentwickelt, bis wir das Problem umfassend verstanden und den Fit einer möglichen Lösung bestätigt sahen. So mussten wir aufgrund der heute bestehenden, historisch gewachsenen, hochgradig individuellen Lösungen der einzelnen Rechtsabteilungen den Ansatz, mit KI einfach auf dem Bestand aufzusetzen, verwerfen. Stattdessen gilt es, zunächst eine einheitliche digitale Plattform zu schaffen, welche bereits heute die Rechtsabteilungen im Alltagsgeschäft entlastet und gleichzeitig den Mitarbeitenden einen schnelleren Kundenservice ermöglicht.
Dieses Projekt nennen wir „JASPER – Recht. Effizient.“ Durch JASPER wollen wir einerseits für Mitarbeitende in Markt und Marktfolge innovative Selbstbedienungs-Angebote und ein zentrales Wissensportal schaffen. Dadurch geben wir ihnen in allen Filialen einen einfachen Zugang zu rechtssicheren Antworten und Informationen, ohne dass hierfür zusätzliches Personal benötigt wird. Zugleich beschleunigen und verschlanken wir die Prozesse auch für Juristen und machen es unseren Kollegen im Vertrieb einfacher, Kunden rechtssicher und zügig weiterzuhelfen.
Der Bank Blog: Wie konkret gestalten sich diese innovativen Selbstbedienungs-Angebote und das zentrale Wissensportal? Das ist ja nun wirklich kein triviales Gebiet.
Dr. Sascha Theißen: Wir haben einen redaktionellen Prozess entworfen, der ganz auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzergruppen eingeht: Die Idee ist, dass basierend auf konkreten Nutzungsdaten, z.B. einer wiederholt auftretenden erfolglosen Suche nach Antworten zu einem Thema im Wissensbestand, hierzu allgemeingültige Antworten erstellt und diese in einer modernen Wissensdatenbank veröffentlicht werden. Bei komplizierteren Fragen hilft ein Chatbot dem Nutzer, den Sachverhalt zu ermitteln und liefert entweder konkrete Antworten oder einen strukturierten Sachverhalt für die anschließende menschliche Prüfung.
Dies haben wir im Rahmen der Pilotierung zunächst für einige beispielhafte Rechtsgebiete umgesetzt, und das Feedback der Pilotnutzer war durchweg positiv. Dabei zeigte sich, dass die User rechtssichere Antworten beispielsweise komfortabel über eine Google-ähnliche Suche oder den Chatbot abrufen können. Dies stärkt die Kompetenz der Mitarbeitenden im Kundenkontakt, da sie auftretende Rechtsfragen quasi in Echtzeit rechtssicher beantworten können, statt nach Rücksprache mit der Rechtsabteilung mit dem Kunden einen Folgetermin vereinbaren zu müssen.
JASPER nutzt Künstliche Intelligenz
Der Bank Blog: Klassische Wissensdatenbanken als Informationsquellen sind ja nun kein neues Thema. Die Krux war in der Vergangenheit eher, dass die Systeme kaum genutzt wurden, weil das enthaltene Wissen schwer zu finden war oder die Suchenden allein gelassen wurden.
Dr. Sascha Theißen: Richtig. Eines unser wichtigsten Erfolgskriterien ist deswegen, dass die Nutzer von JASPER mit den Angeboten ohne nennenswerte Schulung zurechtkommen. Nur dann werden sie die Selbstbedienungs-Angebote auch wirklich nutzen. Wir setzen bei der Erarbeitung der Inhalte daher auf eine nutzergerechte Sprache und greifen gleichzeitig auf die technischen Möglichkeiten von „Legal Service Delivery“ zurück.
Neben der Google-ähnlichen Suche, die prominent auf der Startseite zur Nutzung der Wissensdatenbank anregt, haben wir beispielsweise auch automatisierte Suchmechanismen implementiert, die bei der Erstellung einer Anfrage an die Rechtsabteilung anhand der Schlagwörter im Anfragentext passende Wissensartikel heraussucht. Unser Ziel: Nutzer erhalten stets relevante Hilfestellungen, welche die Anfragenstellung am Ende vielleicht sogar erübrigen.
Der Bank Blog: Müssen die Nutzer für eine zielführende Suche die Rechtsterminologie kennen?
Dr. Sascha Theißen: Keineswegs. In der aktuellen Pilotphase sitzt „die Intelligenz“ noch vor dem Rechner, d.h. wir erarbeiten möglichst allgemeinverständliche, branchentypische Fragen noch selbst. Als technische Ausbaustufe sollten künftig die Suchbegriffe mittels kontextueller Künstlicher Intelligenz den relevanten Regulatorien automatisch zugeordnet werden. Unsere Chatbots sollten dann mittels „Natural Language Understanding“ (NLU) und „Machine Learning“ (ML) natürliche Sprache verstehen, Synonyme und verwandte Begriffe identifizieren und sogar Rechtschreibfehler korrigieren. Bei komplizierteren Sachverhalten bieten diese virtuellen Agenten individuelle Hilfestellungen an und führen die Mitarbeiter sicher und komfortabel zu den richtigen Antworten für ihre konkrete Problemstellung. Mitarbeiter kommen damit schneller zum Ziel.
Das zugrunde liegende technische System wurde u.a. mit Hinblick auf genau diese Anforderungen ausgewählt, auch wenn der Ausbau hierhin noch aussteht.
Digitalisierung entlastet die Rechtsabteilung
Der Bank Blog: Zugleich entlasten Sie die Rechtsabteilungen…
Dr. Sascha Theißen: Absolut, denn sie müssen Rechtsfragen nur noch einmal und nicht immer wieder beantworten. Fragen, welche sich in einer Sparkassenrechtsabteilung heute schon häufen, sind in der Regel durch FAQs, Arbeitsanweisungen etc. gut beantwortet. Hier ging es uns mehr um die Vereinfachung und Beschleunigung des Zugangs zur konkreten Antwort. Die mehrfache Pflege solcher Datensätze ist aber bereits heute ein Schmerzpunkt für die Rechtsabteilungen, welche JASPER lösen hilft. Wir sehen heute aber oft nur die Spitze des Eisbergs: Wenn ein und dieselbe Rechtsfrage nur dreimal im Jahr in einer Sparkasse beantwortet werden muss, kommt selten jemand auf die Idee, diese in ein FAQ zu schreiben. Bei den vielen Sparkassen in Deutschland bedeutet dies aber, dass dieselbe Frage insgesamt über 1.000-mal pro Jahr in der Sparkassen-Finanzgruppe beantwortet wird. Bislang gab es keine Möglichkeit, dies zu erfassen oder abzustellen. Mit der zentralen Erfassung von Fragen und datenbasierter Weiterentwicklung des Wissensbestandes werden wir künftig auch solche Effizienzen heben können.
Und auch bei Rechtsfragen, welche weiterhin in der Rechtsabteilung landen, sorgen wir für Entlastung. Durch effiziente Prozesse, medienbruchfreie Kommunikation, Unterstützung durch Workflows und die Möglichkeit zur vereinfachten Zusammenarbeit bereits heute. Und auch hier können wir uns die Unterstützung durch KI gut vorstellen, beispielsweise dergestalt, dass den Juristen „ähnliche“ Fälle zum aktuellen angezeigt werden, um über unterschiedliche Bearbeiter hinweg eine möglichst konsistente wie effiziente Bearbeitung zu ermöglichen.
So können wir vorhandene Kapazitäten besser nutzen, etwa zur Bearbeitung drängender und hochkomplexer Rechtsfragen, die sich aus aktuellen Urteilen und den stetig steigenden Regulatorik-Herausforderungen ergeben.
Der Bank Blog: Wie arbeiten die Mitarbeiter einer Rechtsabteilung auf der Plattform zusammen?
Dr. Sascha Theißen: Die gemeinsam mit den Anwendern entwickelten, einheitlich digitalisierten Backendprozesse vereinfachen auch eine Bearbeitung durch unterschiedliche Mitarbeiter und z.B. auch aus dem Home-Office und erlauben eine datengetriebene weitere Optimierung. Generell erleichtern wir den Prozess für alle Mitarbeiter der Rechtsabteilung mit einem strukturiertem Eingangskanal inklusive Sachverhaltserfassung, einem einheitlichen Kommunikationskanal für alle Nutzer und einer komplett digitalen Akten- und Anfrageverwaltung an einem zentralen Ort.
Alle Beteiligten gewinnen mit Legal Service Delivery
Der Bank Blog: Warum haben Sie sich für die „Legal Service Delivery“ von ServiceNow entschieden?
Dr. Sascha Theißen: „Legal Service Delivery“ von ServiceNow hat uns am meisten überzeugt, weil die vielfältigen intelligenten Grundfunktionalitäten bereits die große Mehrheit unserer Workflow-Anforderungen abdecken. Auch bietet uns der modulare Aufbau des Systems viele Möglichkeiten, JASPER weiterzuentwickeln. Die dezentrale Organisation der Sparkassen-Finanzgruppe setzt außerdem ein mandantenfähiges System voraus, wofür „Legal Service Delivery“ optimale technische Voraussetzungen mitbringt. Zudem setzt ServiceNow auf hohe IT-Sicherheitsstandards, was eine absolute Notwendigkeit im Bankensektor darstellt.
Der Bank Blog: In der aktuellen Phase lassen Sie JASPER durch Ihren Technologiepartner Finanz Informatik betreiben. Wäre es nicht einfacher, die Lösung in die Cloud zu verlagern?
Dr. Sascha Theißen: Cloud-Anwendungen haben sich u.a. aufgrund ihrer Aktualität und einfachen Skalierbarkeit vielfach bewährt, weswegen auch im Bankenumfeld über Einsatzmöglichkeiten nachgedacht wird. Die deutsche ServiceNow Cloud würde sich dabei natürlich anbieten. In unserem Use Case waren jedoch die spezifischen, hohen Anforderungen an IT-Sicherheit, Datenschutz und Vertraulichkeit der Rechtsberatung als auch generelle Anforderungen an Banken ebenso zu berücksichtigen wie die Struktur der Sparkassen Finanzgruppe, bei der das Kernbankensystem seitens der FI bereitgestellt wird.
Das Hosting durch die FI ermöglicht uns im konkreten Fall, JASPER für die Sparkassen sehr einfach und bequem gemäß dem von den Instituten gewohnten Standardprozess und Sicherheitsstandard live zu schalten, als auch perspektivisch weitere speziell abgesicherte interne Systeme hiermit zu verknüpfen. Der in unserem Fall einfachere Rollout hat, insbesondere für die Pilot-Phase, den Ausschlag für die FI gegeben, mit der wir zudem sehr gut zusammenarbeiten.
JASPER wird sukzessive weiter ausgebaut
Der Bank Blog: Wo wollen Sie mit JASPER mittelfristig hin?
Dr. Sascha Theißen: Wir wollen die Lösung sukzessive um weitere Anwendungsfälle ausbauen. Die Pilotierung hat bereits zahlreiche Use Cases offenbart, bei denen wir wichtige Prozesse deutlich entschlacken, beschleunigen und weniger fehleranfällig ausgestalten können. Vieles, was Juristen heute von der inhaltlichen Arbeit abhält, kann und sollte so reduziert werden, um mehr Hände ans eigentliche Geschäft zu bringen. Mit dem aktuellen Entwicklungsstand haben wir hierfür eine sehr gute Basis geschaffen.
Der Bank Blog: Vielen Dank für das Gespräch.