Schon jetzt zeichnen sich für die neue Bundesregierung massive Herausforderungen ab, die die Koalitionäre noch gar nicht auf der Agenda zu haben scheinen. Die Marktwirtschaft steht in einer historischen Bewährungsprobe – wenn man sie denn lässt.
Um über ein Drittel nach unten korrigiert haben die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Wachstumsprognose für 2021, von 3,7 auf 2,4 Prozent. Die Ökonomen fordern zu mehr Realitätssinn auf hinsichtlich der Umsetzbarkeit politischer Wünsche. Politik und Gesellschaft hätten noch nicht verstanden, dass man den Gürtel enger schnallen müsse. An weniger Konsum führe in der Zukunft kein Weg vorbei.
Die Wirtschaftsweisen erwarten für das nächste Jahr ein BIP-Wachstum um 4,8 Prozent. Im ersten Quartal 2022 werde die Wirtschaft wieder ihr Vorkrisenniveau erreichen. Das gelte auch für die Zahl der Beschäftigten, die knapp 45,4 Mio. erreichen soll. Zurückzuführen ist die deutliche Abflachung des für 2021 erwarteten Aufschwungs vor allem auf Lieferengpässe bei Rohstoffen und Vorprodukten. Der Außenhandel wird zusätzlich belastet durch deutlich steigende Frachtpreise und den Mangel an Containern.
Der BDI warnt: „Probleme in globalen Lieferketten, hohe Logistikkosten und ungeklärte Handelsstreitigkeiten verdunkeln den Konjunkturhimmel und haben in der Folge massive Auswirkungen auf die Exporte.“ Die Stimmung in den deutschen Chefetagen hat sich laut ifo im Oktober zum vierten Mal in Folge verschlechtert. Im vierten Quartal könnte sich das Wirtschaftswachstum deutlich abschwächen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Geldentwertung besteht die Gefahr einer Stagflation. Angesichts der zunehmend schwierigen Rahmenbedingungen erscheint die Wachstumsprognose von 4,8 Prozent für 2022 als vom Prinzip Hoffnung getragen.
Schlüsselindustrie im Rückwärtsgang
Die FAZ sieht die deutsche Industrie in einer „Flaschenhals-Rezession“. Produktion und Auftragseingang sind im August stark eingebrochen. Der Ausstoß der Industrie war gegenüber dem Vormonat um 4,7 Prozent rückläufig. Vor allem der Lieferengpass bei Mikrochips verhindert, dass die Unternehmen von der erholten Weltkonjunktur profitieren. So mussten die Automobilzulieferer ihre Produktion im August im Vergleich zum Vormonat um 17,5 Prozent zurückfahren. Die Branche rechnet damit, 2021 fast ein Fünftel weniger Autos herzustellen als im Krisenjahr 2020, was dem fünftgrößten Einbruch in der Nachkriegsgeschichte gleichkäme. Die partielle Lahmlegung dieser Schlüsselindustrie hat unvermeidlich gravierende Auswirkungen auf den Bereich der Zulieferunternehmen, deren Verband vor einer Insolvenzwelle warnt.
Die Bereitschaft der Banken, den häufig schon jetzt von erheblichem Fremdkapital abhängigen Firmen mit zusätzlichen Krediten über die Runden zu helfen, hält sich offenbar in engen Grenzen. Die Annahme, dass es sich bei der Chipkrise um ein kurzlebiges Phänomen handele, dürfte sich als trügerisch erweisen. Boston Consulting erwartet, dass der Mangel auch das nächste Jahr – wenn auch abgeschwächt – belasten wird. Insgesamt sollen danach etwa 5 Mio. Pkw weniger produziert werden. Erst 2023 sei wieder mit einer ausreichenden Verfügbarkeit zu rechnen.
„Tassen im Schrank“
„Es geht um mehr oder weniger Markt, mehr oder weniger Umverteilung, mehr Freiheit oder mehr Verbote.“ Auf diese Formel bringt der Chefredakteur der „Wirtschaftswoche“ die Herausforderungen für die neue Koalitionsregierung. Anders ausgedrückt: Es geht um mehr oder weniger Marktwirtschaft. Abzuwarten bleibt, ob es der FDP gelingt, wirtschaftspolitische Leitplanken gegenüber staatswirtschaftlichen Neigungen und unterschwelligen Links-Tendenzen bei SPD und Grünen dauerhaft und wirksam zu etablieren.
Nach Einschätzung der FAZ braucht die Bundesrepublik dringend eine marktwirtschaftliche Erneuerung. Deutschland benötige keine romantisierende Erörterung des Nutzens von Lastenfahrrädern, sondern eine Debatte über die Rahmenbedingungen zur Steigerung der wirtschaftlichen Innovationskraft. Der Wunsch nach der großen Geldverteilung fördere den Machbarkeitswahn, langfristige finanzielle Risiken würden ausgeblendet und als Visionen von Spinnern verlacht. Der Verband der Familienunternehmer legt der neuen Bundesregierung nahe, die Wirtschaft auch beim Thema Nachhaltigkeit als Partner zu begreifen, nicht als Gegner. Unverändert aktuell ist die Aufforderung des einstigen SPD-Wirtschaftsministers Prof. Karl Schiller an die damalige Juso-Generation, doch bitte die (wirtschaftlichen) Tassen im Schrank zu lassen.
Nur noch Rang 15
Seit vielen Jahren stellt die Wirtschaftshochschule IMD (Lausanne) die Wettbewerbsfähigkeit der Industrienationen auf den Prüfstand. Lag Deutschland beim „World Competitiveness Report“ anno 1989 noch auf einem ehrenvollen fünften Platz, so ist die Bundesrepublik 32 Jahre später auf Rang 15 abgestürzt. Die Bewertung erfolgt anhand von 240 Indikatoren in den Kategorien Wirtschaftsleistung, Effizienz des Regierungshandelns, unternehmerische Effizienz und Infrastruktur.
Der IMD-Direktor bringt die Ursachen der permanenten Verschlechterung so auf den Punkt: „Deutschland hat den digitalen Ausbau verschlafen.“ Die Investitionen in Innovationen und Digitalisierung seien maßgeblich für die Standortqualität. Die Produktionskosten seien in Deutschland durch hohe Lohn- und Lohnnebenkosten sowie Unternehmenssteuern und kürzere Arbeitszeiten stärker als überall sonst auf der Welt gestiegen.
In absoluten Arbeitsstunden gemessen, landet die Bundesrepublik im Vergleich der 64 analysierten Staaten auf dem drittletzten Platz, was die seit Jahren rückläufige Produktivität erklärt. Dagegen ist es der Schweiz, der Nr. 1 im Ranking, gelungen, sich trotz hoher Kosten unter den zehn produktivsten Ländern der Welt zu behaupten. Noch etwas schlechter wird die internationale Steuerwettbewerbsfähigkeit bewertet. Hier rangiert Deutschland nur noch auf Platz 16 der untersuchten 37 OECD-Staaten. Die überfällige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit müsste also deutlich zu den primären Pflichtaufgaben jeder neuen Bundesregierung zählen. Im zwölfseitigen Sondierungspapier der Ampel ist davon allerdings nicht die Rede. Und: Von den 22 gebildeten Arbeitsgruppen zur Vorbereitung des Koalitionsvertrags ist – soweit erkennbar – keine diesem zentralen Zukunftsthema gewidmet. Der langjährige Top-Manager Wolfgang Reitzle beantwortet die Frage, wo Deutschland überhaupt noch führend sei, so: „Ganz sicher bei Steuern, Umverteilung und beim Strompreis. Und genau dafür haben einige Parteien konkrete Pläne, diese Führungsposition weiter auszubauen“.
Die gewollte Inflation
Im September sind die Verbraucherpreise – gegenüber dem Vorjahresmonat – um 4,1 Prozent gestiegen, was dem höchsten Stand seit 28 Jahren entspricht. Die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte bewegten sich mit 12 Prozent auf dem höchsten Level seit der Ölkrise in 1974. Preistreiber waren vor allem die Energiekosten (+24 Prozent) und Vorleistungsgüter (+17,1 Prozent). Regelrechte Preisexplosionen gab es bei Nadelschnittholz (+124 Prozent), Sekundärrohstoffen (+104 Prozent), Verpackungsmitteln (+89,4 Prozent) und Betonstahl (+89,2 Prozent).
Die Importpreise erhöhten sich im Durchschnitt um 16,5 Prozent und erreichten damit den höchsten Wert seit 40 Jahren. Importierte Energie verteuerte sich um 93,6 Prozent, Erdgas stieg um 170,5 Prozent, Erdöl um 63,6 Prozent. Erstaunlicherweise liegt die deutsche Inflationsrate (4,1 Prozent) deutlich über der durchschnittlichen Geldentwertung in der Eurozone (3,4 Prozent).
Die Verbraucher sehen sich durch diese Entwicklung einem zangenartigen Zugriff ausgesetzt: Einerseits haben sie deutlich mehr Geld für ihren Lebensunterhalt aufzubringen, andererseits werden sie als Sparer massiv enteignet. Einer Bank-Studie zufolge beliefen sich die Wertverluste in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres auf 47 Mrd. Euro, was 570 Euro pro Sparer ausmache. Hinzu kommen die „Verwahrungsentgelte“ genannten Strafzinsen.
Mit Blick auf die zunehmende Verunsicherung der Bürger (und Wähler) setzt die EZB konsequent auf Beschwichtigung und Beschönigung. Dazu zählt die wenig überzeugende These, die nur vorübergehende Inflation werde schon im nächsten Jahr wieder unter 2 Prozent fallen. Prof. Gunther Schnabl (Uni Leipzig) sieht darin den Versuch, die Menschen an höhere Inflationsraten zu gewöhnen. In dieses Raster passt auch die seit Jahren von der EZB vorgegebene Sprachregelung, dass es sich bei einer gewollten Inflationsrate „um 2 Prozent“ nur um eine Maßnahme zur Preisstabilität handele.
Unverkennbar ist, dass vor allem die Schuldenländer klammheimliches Interesse an einer deutlichen Geldentwertung im doppelten Sinne haben. Einerseits trägt sie zum Abbau der realen Staatsschulden bei. Andererseits sorgen Preiserhöhungen für mehr Steuereinnahmen. Daher dürfte sich auch das Engagement von SPD und Grünen für eine konsequent verfolgte Preisstabilität in Grenzen halten.
In diesem Sinne ist der für Insider nicht überraschende Rücktritt von Bundesbank-Präsident Jens Weidmann – nach der Bundestagswahl – als fatales Alarmsignal zu interpretieren. Die „Welt“ merkt an: „Mitten im Inflationsschock: Mit Weidmann verliert die EZB ihr letztes mächtiges Korrektiv.“ Nach aller Voraussicht wird die neue Bundesregierung dafür sorgen, dass dem geldpolitischen „Falken“ eine kompromissbereite „Taube“ im Amt des Bundesbankpräsidenten folgen wird. Weit oben auf der Kandidatenliste steht mit Isabel Schnabel eine glühende Verfechterin der fortgesetzten Geldflutung und Nullzinspolitik durch die EZB. Sie hat sich auch mit desinformatorischen Sprachschöpfungen einen Namen gemacht. Aktuelle Kostprobe zur Erläuterung ihrer kürzlich vollzogenen argumentativen Kehrtwende: „Es wäre voreilig, zu behaupten, dass die derzeitige Preisdynamik nächstes Jahr völlig abklingen wird.“