Deutschland stolpert weitgehend orientierungslos in ein unübersichtliches Minenfeld voller politischer, wirtschaftlicher und gesundheitlicher Krisenherde. In dieser prekären Lage vermittelt die Bundesregierung bislang kein Bild von Geschlossenheit und Tatkraft.
Die aktuelle Situation Deutschlands mutet gespenstisch an. Während der größte Teil der Bevölkerung noch entspannte Sommerferien genießt, droht am Horizont eine in dieser Dimension historisch einzigartige Zusammenballung von mehr oder weniger existentiellen Herausforderungen. Längst ist die Pandemie als Initialfunken durch weitere Krisen wie Ukraine-Krieg, Mega-Inflation, Zinswende und Konjunktureinbruch angefacht und ausgeweitet worden.
Als Folge kommt es zu massiven Störungen der globalen Lieferketten mit erheblichen Produktionsbehinderungen in der Industrie. Der Taiwan-Konflikt könnte zu einem Weltbrand führen. In Deutschland kreist die öffentliche Diskussion wenige Wochen vor Herbstanfang um zunehmend wahrscheinliche Energieversorgungsprobleme im kommenden Winter.
Angesichts dieser fatalen Gemengelage drängt sich nahezu unvermeidbar der Vergleich mit dem Sinnbild vom Tanz auf der Titanic auf.
Nur noch Nachzügler?
Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat seine Prognosen für das globale Weltwirtschaftswachstum 2022 deutlich abgesenkt auf 3,2 Prozent. Ursächlich seien vor allem die erneuten Lockdowns in China, die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine und die „unerwartet hohen“ Inflationsraten in den USA und Europa. Deutschland werde mit einem BIP-Anstieg von 1,2 Prozent deutlich unter dem globalen Durchschnittswert bleiben, was Fragen nach der künftigen Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik impliziert.
Fraglich ist außerdem, ob das deutsche Wachstumsziel von 1,2 Prozent überhaupt noch erreicht werden kann. Denn: Das BIP hat im zweiten Quartal stagniert. Und die gängigen Indikatoren berechtigen nicht gerade zum Optimismus. So ist die Konsumlaune laut GfK auf ein Allzeittief eingebrochen. Das ifo-Geschäftsklima ist auf den niedrigsten Stand seit über zwei Jahren gesunken. Der ifo-Präsident sieht das Land bereits „an der Schwelle zur Rezession“ und nennt insbesondere die hohen Energiepreise und die drohende Gasknappheit als Bremsfaktoren.
Auch im europäischen Vergleich läuft Deutschland Gefahr, seine frühere Rolle als Konjunktur-Lokomotive gegen eine Nachzügler-Position zu verlieren. Während das durchschnittliche BIP der 19 Euro-Länder im zweiten Quartal um immerhin 0,7 Prozent zugelegt hat, konnte das Statistische Bundesamt nur die erwähnte Null-Performance melden. Dagegen wuchs die Wirtschaftsleistung in Spanien um 1,1 Prozent, in Italien um 1,0 Prozent und in Frankreich um 0,5 Prozent.
Die Anmaßung der EZB
Die Inflationsrate in der Euro-Zone ist im Juni auf 8,6 Prozent gestiegen. Otmar Issing, der ehemalige Chefvolkswirt der EZB, hält kurzfristig sogar eine zweistellige Geldentwertung für möglich. Er rechnet nicht mit einem schnellen und nachhaltigen Rückgang und warnt in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche“ davor, bei einer schlecht laufenden Wirtschaft den Kampf gegen die Inflation zurückzustellen. Wer diesen Weg beschreite, bekomme am Ende hohe Inflation und Rezession.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat scharfe Kritik an dem neuen EZB-Anleihenaufkauf-Programm TPI geübt. (Das Kürzel steht für Transmission Protection Instrument.) Wenn die EZB die Zinsabstände zwischen Staaten in der Euro-Zone nivellieren wolle, indem sie Anleihen angeschlagener Staaten gezielt ankaufe, dann sei dies der letzte Schritt in die monetäre Staatsfinanzierung, also in die Finanzierung der Haushalte dieser Länder mit Notenbankgeld. Merz weiter: „Dieser Schritt ist vom Mandat der EZB nicht umfasst, die Zentralbank handelt dann außerhalb ihrer Kompetenzen. Die EZB würde damit endgültig die vertragliche Grundlage verlassen, auf der vor gut 20 Jahren die Währungsunion gegründet wurde.“
Auch der Ökonom Hans-Werner Sinn sieht die EZB auf einem gefährlichen Kurs. Die Währungsunion könne nur existieren, wenn Staaten, die sich höher verschulden, höhere Zinsen zahlen müssten. Sinn: „Zinsen sind eine Schulden- und Inflationsbremse. Dieser Selbststabilisierungsmechanismus der Marktwirtschaft wird mit dem neuen Instrument fundamental geschwächt.“ Immer mehr Schulden würden den Inflationsdruck weiter verstärken. Der alte Weg, alle Probleme mit immer mehr Geld zuzuschütten, funktioniere angesichts der Geldentwertung nicht mehr. Die Politik wolle das europäische Transfersystem immer weiter ausbauen. Wenn das gelänge, werde Südeuropa zum großen Mezzogiorno, finanziert vom produktiven Norden.
Im Schuldenrausch
Der deutsche Staat hat 2021 mit über 2,37 Billionen Euro einen neuen Schuldenrekord erreicht. Binnen eines Jahres ist die öffentliche Verschuldung um 6,8 Prozent oder 148,3 Mrd. Euro gestiegen. Der Bund war Ende 2021 mit 1.548,3 Mrd. Euro (+10,3 Prozent) verschuldet, die Länder mit 638,5 Mrd. Euro (+0,4 Prozent) und die Gemeinden mit 134,2 Mrd. Euro (+0,6 Prozent).
Hinzu kommt eine Vielfalt weitgehend vernebelter Neben- und Schattenhaushalte. Zur kreativen Budgetierung gehört die Schaffung zusätzlicher finanzieller Spielräume unter Umgehung der geltenden Haushaltsregeln. Beispielhaft dafür ist das „Sondervermögen Bundeswehr“, das mit 100 Mrd. Euro die verteidigungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit ausgleichen soll. Dieser euphemistische Begriff soll davon ablenken, dass es hier um neue Schulden geht. Mit „Vermögen“ hat das Projekt überhaupt nichts zu tun.
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat schon 2020 24 Schattenhaushalte neben den offiziell verabschiedeten Haushaltsplänen von Bund, Ländern und Gemeinden aufgelistet. Diese Polit-Praxis trägt dazu bei, einst gut gemeinte Sparauflagen wie die EU-Stabilitätskriterien von Maastricht oder die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ins Leere laufen zu lassen. Der Zugriff auf die Gelddruckmaschinen widerlegt scheinbar die alte Volksweisheit, dass die Schulden von heute die Steuern von morgen sind.
Vor diesem Hintergrund entwickelt die Modern Monetary Theory gerade für jene Politiker, die ihren Wählern jegliche „Zumutung“ im Sinne von Vernunft und Machbarkeit ersparen wollen, großen Charme. Die Konstellation erinnert an den Dealer, der seine Kunden beim Erwerb des Rauschgifts anschreiben lässt. Übersehen wird dabei allerdings, dass sich im Wirtschaftsleben letztlich immer die normative Kraft des Faktischen durchsetzt. Dabei gilt: Je länger der Missbrauch, desto schwieriger und schmerzhafter der Entzug.
Im Energie-Notstand
Die deutsche Energieversorgung hängt bis auf weiteres vom Wohlwollen der russischen Administration ab. Die unverantwortliche Politik früherer Bundesregierungen hat das Land abhängig und erpressbar werden lassen. Völlig offen ist derzeit, zu welchen Konsequenzen diese Ausgangslage im nächsten Winter führen wird. Käme es zu einem vollständigen Stopp aller Energieimporte aus Russland, würde die deutsche Wirtschaftsleistung – laut Bundesbank – um 165 Mrd. Euro abstürzen in eine tiefe Rezession. Die Auswirkungen auf den sozialen Frieden, Arbeitsmarkt, Wirtschaftsstrukturen, Steuereinnahmen und Fortbestand staatlicher Sicherungssysteme wären schlicht nicht absehbar. Schon jetzt gefährden die explodierenden Gas- und Strompreise die Gesamtwirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher Branchen und Unternehmen.
Weitgehend unbekannt ist, dass bei einem regionalen Druckabfall im Gasnetz der Gasströmungswächter ausgelöst wird. Das würde eine Vielzahl von Gasheizungen bis zur von Installateuren manuell vorzunehmenden Behebung funktionsunfähig machen. Dass in einer potenziell derartig kritischen Lage hierzulande immer noch über die Wiederinbetriebnahme und Laufzeitverlängerung von Kern- und Kohlekraftwerken gestritten wird, ist wohl nur mit einer sehr speziellen deutschen Rechthaber-Mentalität zu erklären. Eine Regierung, die sich tatsächlich dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtet fühlt, müsste längst mit Hochdruck jeden Tag nutzen, um die technischen Voraussetzungen für den weiteren Betrieb zu erfüllen.
Auch im Ausland sorgt die fortschreitende Realitätsverweigerung der Bundesregierung für erhebliches Unverständnis. Das gilt vor allem für die vorsorglichen Solidaritäts-Appelle an andere EU-Länder als Energie-Lieferanten, die die gleichzeitig immer noch beabsichtigte Stilllegung der letzten drei deutschen Kernkraftwerke zum Jahresende als blanke Zumutung zu ihren Lasten empfinden.
Vom Bundeskanzler war bisher nur zu hören, er könne sich den Weiterbetrieb „vorstellen“. Gleichwohl ist der längst überfällige Auftrag zur Beschaffung neuer Brennstäbe bisher offenbar noch nicht erfolgt. Sollte es im kommenden Winter zu Engpässen oder gar Blackouts bei der Stromversorgung kommen, wird sich die Bundesregierung für ihr unbegreifliches Zaudern und Zögern verantworten müssen.
Schon jetzt hat die Ampel-Koalition ihren anfänglichen Sympathie-Bonus bei den Führungskräften der Wirtschaft offenbar weitgehend verspielt. Die erste wirtschaftspolitische Sommerbilanz fiel – laut dem neuen Entscheider-Panel der „Wirtschaftswoche“ – mehr als ernüchternd aus. 68 Prozent bewerten die Arbeit der Regierung als „sehr negativ“ bzw. „eher negativ“. Nur 20 Prozent zeigten sich mit den Leistungen von SPD, Grünen und FDP zufrieden. Beim Vergleich mit Scholz und Lindner hat Wirtschaftsminister Habeck mit der relativ höchsten Zustimmung von 32 Prozent (derzeit) die Nase noch vorne.
Bad News im Überfluss
In den gegenwärtig mehr als komplexen Zeiten erweist sich die gewohnte Lektüre von Wirtschaftsmedien nicht gerade als vergnügungssteuerpflichtig. Schon die Verarbeitung der meist negativen Überschriften setzt ein gesundes Nervenkostüm und innere Gelassenheit voraus. Nachdenklich stimmt die Vielzahl von Themen mit hohem Handlungsbedarf, die derzeit oft von den „großen Krisen“ mit dem Potenzial zum System-Blackout überlagert werden. Beispielhaft seien folgende Headlines von aktuellen Publikationen genannt: „Das deutsche Wohlstandsmodell gerät in Gefahr“, „Inflation in der Eurozone steigt unaufhaltsam“, „Taiwan: Gefahr einer Kettenreaktion“, „Fachkräftemangel auf Allzeithoch“, „Handwerkspräsident befürchtet Insolvenz-Welle“, „Materialmangel in der Industrie“, „Target 2: Schulden Italiens auf Rekord“, „Darum müssen die Deutschen länger arbeiten“, „Schlechtestes Halbjahr der Börsengeschichte“.
Ein ungutes Gefühl hinterlässt die Erkenntnis, dass es oft die Verkettung eigentlich überschaubarer Einzelfaktoren ist, die zum Blackout von Systemen führen.