Fünf Thesen sollen zeigen, wie Digitalisierung mit Künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen und optimierter Entscheidungsfindung das Privatkundengeschäft auf ein neues Level bringt und wie Retail-Banken diese neuen Möglichkeiten nutzen können.
Im Mai 2018 präsentierte Google-CEO Sundar Pichai auf der Entwickler-Konferenz Google IO eine neue Technologie namens Duplex. Diese ermöglicht es Googles digitalem Assistenten, bei Dienstleistern oder Restaurants anzurufen und in natürlicher Sprache etwa einen Friseurtermin zu vereinbaren oder einen Tisch zu reservieren. Die in der Demo vorgestellten Gespräche sind tatsächlich beeindruckend, und die von der KI in Sprechpausen eingefügten Füllwörter lassen die Gespräche sehr natürlich klingen. Unabhängig davon, für wie marktreif man solche Technologien halten mag: Die Fortschritte bei der Entwicklung von automatischen Dialogsystemen sind rasant, und es ist absehbar, dass solche Systeme mehr und mehr in der Lage sind oder sein werden, auch in Banken erhebliche Teile der Interaktion mit Kunden zu übernehmen. Das gilt besonders für eine Vielzahl standardisierter Geschäftsvorfälle, die nicht beratungsintensiv sind und nicht der Konfliktlösung dienen.
Umbrüche in der Prozessautomatisierung der Banken
Ähnliche Umbrüche stehen Banken auch bei der Prozessautomatisierung bevor: In einer ersten Automatisierungswelle vor 20 bis 30 Jahren haben wir erlebt, wie bestimmte Prozesse aus den Filialen herausgelöst und neuen zentralen Einheiten übertragen wurden. In „Kreditfabriken“ wurden solche Prozesse serialisiert und auf Produktivität getrimmt. Mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz lassen sich viele Prozesse nun erstmals vollständig automatisieren – ohne Medienbrüche und manuelle Zwischenschritte. Das verspricht sowohl erhebliche Kostenvorteile als auch eine schnellere Bearbeitung und somit ein besseres Kundenerlebnis. Gegenüber solchen volldigitalen Prozessen wirken Kreditfabriken, wie wir sie bisher kannten, eher wie Manufakturen.
Unterstützt wird diese Entwicklung auch dadurch, dass die in digitalen Prozessen notwendigerweise automatisierten Entscheidungen immer besser werden, und die Performance manueller Entscheidungen und mit klassischen Methoden entwickelter Entscheidungsstrategien regelmäßig übertreffen: Methoden aus der Operations Reseach wie die mathematische Optimierung ermöglichen ein quantitatives Verständnis der Tradeoffs zwischen konkurrierenden Zielen wie etwa Profitabilität, Marktanteil und Risikoappetit und erlauben so eine gezielte Entwicklung passgenauer Entscheidungsstrategien mit gewünschten Eigenschaften. Solche Strategien sind klassischen Entscheidungsregeln häufig deutlich überlegen
Fünf Thesen zu Digitalisierung und KI im Retail Banking
Damit Banken mit Digitalisierung und dem Einsatz Künstlicher Intelligenz erfolgreich sind, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein, die ich im Folgenden anhand von fünf Thesen skizzieren möchte:
- Digitalisierung erfordert neue Skills,
- Digitalisierung verlangt agile Methoden,
- KI und Operations-Research erschließen Effektivitäts-Reserven,
- KI erfordert Anstrengungen,
- KI muss erklärbar sein.
These 1: Digitalisierung erfordert neue Skills
Neue Technologien bringen immer auch neue Anforderungen an die Mitarbeitenden mit sich. Für die erfolgreiche Automatisierung von Prozessen ist neben dem technischen Know-how vor allen Dingen ein neues Mindset notwendig. Das Management digitaler Prozesse und automatisierter Entscheidungen verlangt Mitarbeitende, die Prozesse – ähnlich wie im Ingenieurswesen – wie eine Produktionsstraße betrachten. Die sich Gedanken machen über Fehlertoleranzen, über Messtechniken und darüber hinaus – zum Beispiel wann man in den Prozess eingreifen sollte und wie Prozesse kontrolliert werden können.
Während man von menschlichen Mitarbeitern Rückmeldung über den Erfolg oder Misserfolg von Maßnahmen erhält, kann man von der KI diese Art des „Mitdenkens“ erst einmal nicht erwarten. Chatbots, die auf Kundenfragen nicht die richtigen Antworten parat haben, führen zu frustrierenden Kundenerlebnissen – und zwar automatisiert und immer wieder. Mitarbeiter in der Prozesssteuerung müssen also sämtliche Prozessschritte im Auge haben, blinde Flecken erkennen und bei Bedarf nachbessern.
Auch im operativen Bereich wird die Digitalisierung sich auf die Anforderungen an Mitarbeitende auswirken. Wenn die Routinearbeiten von Maschinen übernommen werden, konzentrieren sich im Operations komplexe und beratungsintensive Fälle, Ausnahmen und Konflikte – Fälle, die bisher vielleicht an den Teamleiter eskaliert wurden.
Die Bearbeitung solcher Fälle erfordert mehr Erfahrung und eine höhere Qualifikation. Schon jetzt beobachten wir bei einigen Markteilnehmern, dass in operativen Einheiten, die durch digitale Prozesse entlastet werden, die natürliche Fluktuation genutzt wird, um den Personalbestand zu verkleinern. Wo jedoch Mitarbeiter eingestellt werden, so verfügen diese über eine erheblich höhere Qualifikation und verdienen auch erheblich höhere Gehälter als der durchschnittliche Mitarbeiter vor der Umstellung.
These 2: Digitalisierung verlangt agile Methoden
Erfolgt die Kommunikation mit Kunden über digitale Kanäle, so fehlt der direkte Einblick, wo es knirscht. Während Mitarbeiter ihre Kommunikation intuitiv so anpassen, dass diese effektiv ist, folgen Maschinen stur den Vorgaben, ohne Rückmeldung zu geben, was nicht funktioniert. Banken, die mit digitalen Prozessen erfolgreich sind, überwachen diese engmaschig und passen sie kontinuierlich an. Dabei werden systematisch die Ergebnisse der einzelnen Dialog- und Prozessschritte quantitativ ausgewertet und alternative Ansätze im Champion/Challenger-Verfahren gegeneinander getestet.
Für diesen ständigen Lernprozess verfügen solche Banken über ein funktionsübergreifendes Strategieteam, das im Austausch mit den Fachbereichen Ergebnisse der einzelnen Prozessschritte überprüft, Ideen für Verbesserungen entwickelt und ausprobiert. Voraussetzung für diesen agilen und quantitativ orientierten Ansatz ist die Möglichkeit, Anpassungen schnell und weitgehend ohne Beteiligung von IT-Ressourcen umzusetzen.
Deshalb muss die eingesetzte Entscheidungstechnologie ermöglichen, dass Mitarbeitende ohne Programmierkenntnisse Regeln und Kommunikationsinhalte selbstständig konfigurieren können. Die IT-Abteilung kommt dann allenfalls beim Versionsmanagement zum Einsatz, die eigentliche Prozess- und Regelkonfiguration liegt in der Zuständigkeit der Fachbereiche.
These 3: KI und Operations-Research erschließen Effektivitäts-Reserven
Welche Kreditangebote oder Limits ein Kunde erhält, welche Marketing-Initiativen für eine Zielgruppe erfolgsversprechend sind oder wie intensiv das Forderungsmanagement auf Kunden zugeht – oft werden die entsprechenden Entscheidungsstrategien erfahrungsbasiert entwickelt. Zur Segmentierung des Portfolios werden zwar häufig mathematische Modelle genutzt – bei der Zuordnung von Entscheidungen, Maßnahmen oder Preisen zu diesen Segmenten kommen mathematische Methoden aber oft nur unzureichend zum Einsatz.
Das führt zu erheblichen Opportunitätskosten. Ich erwarte, dass etwa bei der Entwicklung von Preisstrategien, aber auch von operativen Prozessen zunehmend Methoden aus dem Operations Research Anwendung finden, wie dies in anderen Branchen teils seit Jahrzehnten üblich ist. Mit der mathematischen Entscheidungsoptimierung lassen sich zum Beispiel die Abhängigkeiten von Umsatz-, Profitabilitäts- und Risikozielen quantitativ verstehen, so dass Entscheidungsstrategien optimal auf konkurrierende Ziele zugeschnitten werden können.
Der Verzicht auf diese Methoden ist teuer: Ich schätze, dass sich deutsche Banken allein bei Ratenkrediten jährlich einen dreistelligen Millionenbetrag entgehen lassen, weil bei der Entwicklung der Preisstrategien nicht ausreichend mathematische Methoden zum Einsatz kommen.
These 4: KI erfordert Anstrengungen
Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz sind von einer Aura des Aufwand- und Mühelosen umgeben: Probleme lösen sich wie von selbst. Diese Einschätzung ist unzutreffend. Viele unterschätzen, dass mit der Einführung von KI eine gute Vorbereitung und ein regelmäßiges Überwachen und Nachjustieren verbunden sind. Das beginnt schon mit der Auswahl der Methode: Nicht jeder Algorithmus ist für jedes Problem geeignet. Und ein Modell ist immer nur so gut, wie die zugrundeliegenden Daten.
Entsprechend ist die sorgfältige Datenvorbereitung und -bereinigung essenziell. Um echten Mehrwert zu erreichen, ist zudem ein tiefergehendes Verständnis der eigenen Ziele sowie der Methoden und Möglichkeiten zwingend erforderlich. Wo liegt der Wert in einem Geschäftsprozess, und welche Entscheidung hat den größten Einfluss? Welches Wissen und welche Vorhersagen könnten dazu beitragen, diese Entscheidung zu verbessern? Die Antworten auf diese Fragen werden auch in Zukunft menschliche Mitarbeiter vorgeben müssen.
These 5: KI muss erklärbar sein
Beim Einsatz von KI werden massenhaft automatisierte Entscheidungen getroffen. Das birgt die Gefahr, dass sich Fehler und unerwünschter Bias automatisiert replizieren. Eine Entscheidungslogik, die eine Blackbox darstellt, birgt deshalb unkalkulierbare Risiken. Die Funktionsweise der eingesetzten Modelle muss unbedingt verstanden werden, und die Datenmerkmale, die eine Entscheidung dominieren, müssen erklärbar und plausibel sein – sowohl auf globaler Ebene als auch für die Einzelfallentscheidung.
Laut der von FICO beauftragten Studie „State of Responsible AI“ des Marktforschungsunternehmens Corinium können jedoch 65 Prozent der befragten Unternehmen nicht erklären, wie KI-Entscheidungen oder Vorhersagen getroffen werden. Nur ein Fünftel überwacht Modelle aktiv auf Fairness und Ethik. Das sind beunruhigende Zahlen.
Die Erklärbarkeit von KI-basierten Entscheidungen ergibt sich aber nicht nur aus den Prinzipien einer guten Unternehmensführung: In Diskussionspapieren der BaFin und der EBA zeichnet sich bereits eine Regulierung ab, die Erklärbarkeit mindestens für risikorelevante Entscheidungen einfordert. Auf solche Regulierungen in Analogie zu den MARisk („Mindestanforderungen Künstliche Intelligenz“) müssen wir vermutlich nicht mehr lange warten. Die Notwendigkeit des Einsatzes erklärbarer Methoden ergibt sich daher schon aus Gründen der Investitionssicherheit.
Fazit: KI kann helfen, Potenziale im Retail-Banking zu erschließen
Künstliche Intelligenz und Digitalisierung versprechen, die traditionell schwierige Kostenstruktur im margenarmen Privatkundengeschäft erheblich zu verbessern. Maschinelles Lernen, Sprachverarbeitung, Robotik – der Baukasten der Künstlichen Intelligenz bietet eine Palette an smarten Werkzeugen, mit deren Hilfe Maschinen autonom handeln können.
Um angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen den Anschluss nicht zu verpassen, müssen Finanzinstitute wissen, wo ihre Digitalisierungsreise hingehen soll, und wie sie die innovativen Technologien fokussiert einsetzen möchten.
Wie bei allen Automatisierungsvorhaben ist es daher wichtig, diese Tools wohlüberlegt einzusetzen. Denn auch intelligente Technologien können mittelmäßige Prozesse nicht wie von Zauberhand reparieren. Deshalb lohnt sich ein Fokus auf die Entscheidungen und Prozesse, welche für die eigene Organisation den größten Wert liefern. Dann aber ist künstliche Intelligenz nicht einfach nur ein weiteres Buzzword, sondern kann ganz neue Potenziale im Retail-Banking erschließen.