„Verfügungsmacht“ oder „Verfügungsbefugnis“ sind juristische Begriffe, die im Hinblick auf die Diskussionen um Bargeld und Buchgeld eine hohe Bedeutung haben. Dabei geht es auch um die Wahlfreiheit der Bürger.
Die deutsche Sprache ist heute viel umfangreicher als die von Goethe in seiner Zeit benutzten 100.000 Wörter. Viele dieser unserer Sprache so eigenen Wörter benutzen wir kaum, trotz ihrer Bedeutung. Vielleicht geht es manchem Leser bei dem Wort „Verfügungsmacht“ ebenso wie mir, als ich es bewusst in einem Zitat des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Prof. Dr. Udo Di Fabio, zum ersten Mal las. Und vielleicht ist es wie mit vielen Dingen im Leben, dass man die tiefere Bedeutung erst in dem Moment erkennt, in dem man sich eingehender damit beschäftigt.
In unserer modernen Zeit wird kaum jemand die Universitätsbibliothek besuchen, um sich schnell mit einem Thema auseinanderzusetzen. Vielmehr wird „gegoogelt“, um sich einen Überblick zu verschaffen. Und während wir vor weniger als 20 Jahren unser erstes kleines Forschungsglücksgefühl über den Begriff „Verfügungsmacht“ oder auch „Verfügungsbefugnis“ in der Bibliothek der juristischen Fakultät gefunden hätten, so offenbart die Internetrecherche in Sekunden den Blick auf eine Litanei juristischer Foren.
Definition von Verfügungsmacht
Auffällig hierbei ist, dass nicht die Definition von Verfügungsmacht in den Mittelpunkt rückt, sondern dass das Thema der Wiedererlangung der Verfügungsmacht die erste Seite bei Google dominiert. Unvermeidlich erinnert mich dies an meinen ersten Besuch im Münchener Google-Office vor vielen Jahren. Fast schwärmerisch in seinen Ausführungen über die Macht des Algorithmus fragte ein Sales-Mitarbeiter der mächtigsten Suchmaschine der Welt in die Runde, ob wir wüssten, wo man im Internet eine Leiche verstecke. Mit einem Blick in sein kopfschüttelndes Auditorium löste er das Rätsel lächelnd auf und sagte: „Auf der zweiten Seite der Google-Suche.“ Unweigerlich stellt man sich dann natürlich – wenn auch nur rhetorisch – die Frage, ob das Google-Geschäftsmodell ganz besonders deshalb funktioniert, weil viele die Verfügungsmacht über ihre Daten einfach abgegeben haben.
Die Verfügungsbefugnis oder auch Verfügungsmacht ist definiert als die „rechtliche Macht, über einen Gegenstand Verfügungen treffen zu können“. Was banal bedeutet, dass ich über das, was mir gehört – sprich was juristisch mein Eigentum ist – auch die Verfügungsmacht haben sollte. Der eigene Research-Erfolg auf der ersten Google-Seite suggeriert dem Leser jedoch vor allem eines: Dass die Verfügungsmacht über Eigentum durchaus abhandenkommen kann. Etwa auch über das eigene Geld? Um diese Frage zu beantworten sollte man grundsätzlich zwischen Bargeld und Buchgeld unterscheiden.
Bargeld, Buchgeld und die Verfügungsmacht
Bei Bargeld besitze ich die direkte uneingeschränkte physische Verfügungsmacht über mein Geld in Form von Münzen oder Banknoten. Die Verfügungsmacht kann hier selbstverständlich abhandenkommen, wenn ich beraubt werde oder einfach nur das Portemonnaie verliere. Ohne in juristische Tiefen von „normaler“ Geldschuld und Geldherausgabeanspruch einzutauchen, stehen dem Bürger zur Wiederbeschaffung seines Eigentums grundsätzlich alle staatlich zugesicherten Mittel zur Verfügung.
Ähnliches gilt bei Buchgeld, wenn beispielsweise durch Kreditkartenbetrug beim Online-Shopping Geld abhandenkommt. Die Grenzen nicht-physischer Verfügungsmacht würden sich jedoch schnell zeigen, wenn eine Bank in Schieflage geriete und das die Einlagensicherung übersteigende, auf dem Konto geparkte Geld nicht mehr verfügbar wäre.
Bargeld, Buchgeld und freie Verfügbarkeit
Es ist utopisch und durchaus nicht sinnvoll, deshalb all sein „Geld“ als Bargeld zu horten. Doch ist es sicherlich wichtig sich zu verdeutlichen, was es bedeutet, nicht mehr die Wahlfreiheit zwischen Bar- und Buchgeld zu haben und somit sein Recht auf physische Verfügbarkeit über Geld vollkommen aufzugeben.
Im Schlusssatz seiner Rede zum Bargeldsymposium 2018 der Deutschen Bundesbank unterstrich Udo Di Fabio den wahrscheinlich wichtigsten Punkt in der aktuellen Diskussion rund um diese Wahl. Er sagte, dass man es grundsätzlich „nicht geringschätzen“ dürfe, dass jeder Bürger frei über sein Geld – seine „tauschbaren Vermögen“ – verfügen könne. Er fügte weiter hinzu, dass dies besonders gelte, wenn man die „finanzielle Privatsphäre“ für rechtlich geboten halte.
Das heißt eine Gesellschaft, deren gesamtes Vermögen digitalisiert nur in Buchgeld verwaltet würde, könnte auch nur eingeschränkt individuelle Verfügungsmacht über ihr Geld ausüben und müsste sich der Frage stellen, „ob der Staat über seine Zentralbank berechtigt wäre, eine gesteuerte Entwertung durch Negativzinsen, Buchungsabschläge oder Gebühren auf Guthaben vorzunehmen.“ Prof. Di Fabio weist weiter darauf hin, dass dies dann nicht nur ein Eigentumseingriff, sondern im Ergebnis womöglich auch die Auferlegung einer Sonderabgabe wäre, die im deutschen Rechtsystem nur unter engen Voraussetzungen erlaubt sei.
Interessenskonflikte und Vertrauen
Man kann gut erkennen, dass es bei diesem Thema zu erheblichen Interessenskonflikten im Dreiecksverhältnis von Bürger (– wie kann ich mein Geld schützen und vermehren), Staat (– wie kann Staatsverschuldung zurückgeführt werden) und Zentralbank (– wie kann Wirtschafts- und Geldwertstabilität gesichert werden) kommen kann. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Herausforderungen der durch die Corona-Pandemie eingeleiteten Maßnahmen gilt dies im Besonderen.
Es ist der hervorragenden Arbeit der Deutschen Bundesbank seit Bestehen der Bundesrepublik und dem dadurch aufgebauten Vertrauen in unsere Währung zu verdanken, dass das Vertrauen des Bürgers sowohl in Bezug auf Bargeld wie auch Buchgeld in diesem Lande so hoch ist.
Wahlfreiheit zwischen Bar- und Buchgeld
Natürlich ist ein weiterer entscheidender Aspekt dieses Vertrauens die Wahlfreiheit zwischen Bar- und Buchgeld, für welche sich die Bundesbank ebenso einsetzt. Diese Wahlfreiheit bietet auch Banken die Möglichkeit, flexibel mit den Mitteln umzugehen. So könnten Banken beispielsweise, anstatt Negativzinsen auf Buchgeld zu 100 Prozent weiter an den Bürger oder Unternehmen zu belasten, dieses auch physisch als Bargeld verwahren oder verwahren lassen.
Da es nicht zur Kernkompetenz einer Bank gehört, Hochsicherheitsanlagen zu betreiben und man sicherlich auch nicht die eigenen Mitarbeiter der Gefahr eines Überfalls oder der erpresserischen Entführung eines Familienmitglieds aussetzen möchte, besteht natürlich die Möglichkeit, eine solche Dienstleistung LCR-fähig und MaRisk-konform auszulagern. Eine Dienstleistung, die den Kunden in Teilen seines Liquiditätsmanagements unterstützt und nicht in die Schwierigkeit bringt, eventuell einen eigenen Tresor in den eigenen vier Wänden und ohne Sicherheitskonzept zu unterhalten und somit wiederum sich und seine Familie zu gefährden.
„Geld ist geprägte Freiheit“
In seiner Prosaarbeit „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, beschreibt der russische Literat Fjodor Michailowitsch Dostojewski seine eigenen Erfahrungen in sibirischer Gefangenschaft und formuliert den später viel zitierten Satz: „Geld ist geprägte Freiheit“, womit er die lebensnotwendige Relevanz eines freiheitlichen Austauschs von Waren in einem unfreien Umfeld beschreibt – und dies durch geprägtes bares Geld. Für den jungen Dostojewski hätte die Umstellung auf ein reines Buchgeldsystem im sibirischen Gefängnis den Entzug seiner individuellen Verfügungsmacht über Geld bedeutet, sodass er im Umkehrschluss kein Vermögen mehr gehabt hätte, das er zum Tausch für Waren und sonstiges hätte einsetzen können. Er beschreibt diese Situation in der Quintessenz wie folgt: Das Leid der Gefangenen, die nicht über Geld verfügen, ist „10-Mal größer“.
Somit liegt die Vermutung nahe, dass die intellektuellen, ernsthaften Diskussionen über die Wahlfreiheit zwischen Bar- und Buchgeld und den Freiheitsrechten der Bürger eines in seiner Verfassung freiheitlich gefestigten Rechtstaates, Dostojewski mit seinen Erfahrungen in einer unfreien Gesellschaft erfreuen würden. Und es zeichnet unsere offene Gesellschaft aus, dass wir besonders in einer Krise wie der heutigen, die Diskussion um Wahlfreiheit und Verfügungsmacht, nicht nur in Bezug auf unser Geld, auf diesem Niveau führen und weiterführen.