Nach dem Scheitern einer geplanten Fusion hat sich die Volksbank Lübeck neu ausgerichtet. Ein Blick auf die Strategieentwicklung und den Transformationsprozess zeigt, wie der Wandel in den letzten sieben Jahren erfolgreich gestaltet wurde.
Im Jahr 2016 erwies sich der Versuch der Volksbank Lübeck, sich mit einer benachbarten Bank zusammenzuschließen, als gescheitert. Folglich musste die Bank eine strategische Neuorientierung vornehmen.
- Welche Strategien sind notwendig, um als unabhängige Bank erfolgreich zu sein?
- Wie sollte eine Neuorientierung erfolgen, um die Zukunft als Bank zu sichern?
Die damaligen Vorstände erkannten, dass eine Organisation mehr beinhaltet als nur wirtschaftliche Interessen und die Sichtweise der Geschäftsführung bzw. der Vorstandsebene. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Mitarbeiter konsequent in den Prozess einbezogen werden müssen, nicht nur durch eine Befragung, sondern viel mehr durch aktives Handeln und Gestalten innerhalb der Organisation. Vertrauen in das Ergebnis und Loslassen waren zu dieser zentralen Veränderung des Prozesses unerlässlich.
Ambidextrie und Implementierung eines neuen Wertverständnisses
Zunächst beschäftigten sich der Vorstand und die Führungskräfte mit dem Thema der Ambidextrie, also der beidhändigen Ausrichtung eines Unternehmens, um die Zukunft vorzudenken und sich darauf einzustellen. Dieses Unternehmen hatte über viele Jahre konventionelle Planungsprozesse und Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge kultiviert und fachkundig ausgeführt. Doch in einer unvorhersehbaren und schwankenden Realität, die komplexen Beziehungen beinhaltet, führte diese Denkweise nicht mehr zum beabsichtigten Ergebnis. Das, was benötigt wurde, war die sogenannte „Treibsandfähigkeit“, ein Prozess des ständigen Neujustierens, Optimierens und auch das Wagen von Versuchen, die möglicherweise noch Fehler aufweisen und letztendlich auch fehlschlagen können. Es brauchte eine Einstellung, in der man „Drei Schritte vor“ und „einen Schritt zurück“ unternimmt. Alle Beteiligten waren sich bewusst, dass sowohl die „klassische Bankwelt“ als auch die „neue Welt“, in der man heute investiert, um morgen Geld zu verdienen, notwendig sind.
Zu diesem Zeitpunkt versuchten wir, die Transparenz und das Verstehen durch die Implementierung eines neuen Wertverständnisses, das an den Agilen Werten orientiert war, zu verbessern. Doch es zeigte sich, dass Kopf und Bauch in Transformationsprozessen oft unterschiedliche Ansichten haben – das war auch hier der Fall!
Strategieentwicklung 2016: die erste Reise startet
Im Jahr 2016 begann ein Strategieprozess der Bank. Der traditionelle Weg hätte zunächst die Ausgangslage beleuchtet und wäre nach einer Mitarbeiterveranstaltung in einen klassischen Ist-Soll-Abgleich gemündet, um danach die neue Wegstrecke abzubilden. In der schnelllebigen VUKA-Welt wären die Analyseergebnisse aber zum Präsentationszeitpunkt sicherlich schon „Schnee von gestern“ gewesen und der Weg zum Zielbild wäre durch die Komplexität, die Dynamik und die Beeinflussung der Megatrends sehr steinig gewesen.
Daher hatte sich der Vorstand in Zusammenarbeit mit der Unternehmensentwicklung für ein agileres Vorgehen entschlossen. Es starteten mehrere Expeditionsteams parallel auf die Reise. Diese bekamen lediglich einige Leitplanken bzw. Prinzipien an die Hand gegeben.
- Die Bank sollte eine Genossenschaft bleiben.
- Die Kosten sollten um 30 Prozent reduziert werden.
- Die Megatrends sollten berücksichtigt werden.
- Es sollten Teilziele abgeleitet werden.
- Es sollte die Kunst des Weglassens praktiziert werden.
Jedes Expeditionsteam bestand aus sechs bis acht Mitgliedern und hatte die Möglichkeit zwei externe Beratertage zu nutzen, wobei die Berater frei wählbar waren. Ferner sollten die Mitarbeiter für 50 Prozent ihrer Arbeitszeit freigestellt werden und bekamen vier Wochen Zeit für ihre Expedition bzw. Learning Journey.
Die Teilnehmer des Expeditionsteams setzten sich aus folgenden Gruppen zusammen:
- Auszubildende,
- Mitarbeiter,
- KVP-Moderatoren,
- Führungskräftenachwuchs,
- Bereichsleitungen.
Nach der zentralen Mitarbeiterveranstaltung starteten die Teams ihre Reise, um sich mit Megatrends zu befassen, an der Zukunftskonferenz des Zukunftsinstituts teilzunehmen und sich von anderen Unternehmen inspirieren zu lassen. Nach zwei Wochen trafen sie sich wieder, um die Ergebnisse miteinander zu teilen und voneinander zu lernen.
Nach einer weiteren zweiwöchigen Phase wurde das Ergebnis der Expeditionsteams dem Vorstand vorgelegt. Dabei sollte es nicht in Form einer konventionellen PowerPoint-Präsentation sein, sondern es sollte versucht werden, das Ergebnis auf kreative Art und Weise zu präsentieren. Eine Gruppe hatte ein Zeitungsprojekt erstellt, um die Trends und erwarteten Veränderungen hervorzuheben.
Zukunftswerkstatt mit 160 Mitarbeitern
Nun war der Vorstand wieder gefragt, die Ergebnisse zu verarbeiten und zu entscheiden, wie die nächste Reiseroute aussehen könnte. Da weiterhin das Anliegen bestand, möglichst viele Mitarbeiter in die Entstehung eines Zukunftsbildes der Bank einzubinden, wurde eine Zukunftswerkstatt nach dem RTSC-Konzept (Real Time Strategic Change) konzipiert und durchgeführt. An dieser dreitägigen Veranstaltung im Herbst 2016 sollten alle Mitarbeiter teilnehmen können und gemeinsam an der Mission und entsprechenden Handlungsfeldern mitarbeiten.
Die Zukunftswerkstatt wurde von crossfunktionalen Pilotenteams organisiert. Es gab einen Kick-Off-Workshop und zwei zweitägige Planungsworkshops sowie eine Generalprobe, da die Piloten nicht nur in die Vorbereitung der Konferenz, sondern auch in die Durchführung und Moderation der Veranstaltung involviert waren. Die Pilotengruppe wurde als ein Mikrokosmos der Bank errichtet und fungierte somit als Resonanzkörper, Botschafter und Experte für bestimmte Inhalte während der Konferenz. Eines der Hauptziele für die Konferenz bestand darin, dass alle Teilnehmer ein besseres Verständnis für das Gegenwärtige und Potentiale entwickeln, indem sie Verantwortung übernehmen, ein Gefühl der Gemeinsamkeit kultivieren, Wandel in der Wahrnehmung ermöglichen, Normen ändern, neue Erzählungen schaffen und vor allem eine neue Energie erschaffen.
Nach Ablauf der Zukunftswerkstatt waren zwei neue Geschäftsbereiche sowie vier Analysefelder definiert, die im Verlauf der nächsten vier Monate weiterentwickelt beziehungsweise untersucht werden mussten, um sie dann bei einer folgenden Zukunftswerkstatt endgültig präsentieren zu können.
Neues und Altes trennen
Während beider Konferenzen wurde ein zentrales Konzept herausgestellt, das die Gesamtbank beeinflussen würde: LOSLASSEN. Es wurde deutlich, dass die Bank zu schnell neue Themen aufgriff und manchmal vergaß sich von alten Optionen loszusagen, alte Themen zu entfernen und auch „alte Zöpfe“ abzuschneiden.
Daher wurden rund um dieses Thema verschiedene „Baumwipfel“ (Aktionen) für die Gesamtbank in die Umsetzung gebracht:
- Jeder Freitag wurde im Sinne der Gesundheit und Nachhaltigkeit zum Treppentag ausgerufen und auf den Aufzug verzichtet.
- Im Frühjahr gab es einen bankweiten Frühjahrsputz und alle Schränken und digitale Ablagen und Ordner wurden aufgeräumt und fleißig gelöscht.
- Mit einem kooperierenden lokalen Modehaus wurde ein Kleiderwechsel ins Leben gerufen und Kleidung konnte für einen wohltätigen Zweck und gegen Einkaufsgutscheine getauscht werden.
- Zunächst war eine Blutspendeaktion geplant, diese wurde aber zugunsten einer DKMS-Aktion
Mit der Umsetzung der neuen Geschäftsfelder, den Baumwipfeln und der Fortführung der Analysefelder war die Bank im Jahr 2017 sehr gut und umfassend beschäftigt, so dass die nächste Etappe der Transformationsreise für das Jahr 2018 auf dem Programm stand.
Nächster Schritt: Stärkung des Kerngeschäftes
In den Zukunftswerkstätten wurde der Fokus insbesondere auf die Entwicklung neuer, bankferner oder banknaher Dienstleistungen gelegt. Das Jahr 2018 stand unter der Überschrift „Stärkung des Kerngeschäfts“. Das Projekt „KundenFokus Privatkunden“ des Bundesverbandes der Volksbanken Raiffeisenbanken (BVR), welches auf die regionale Ebene der Bank heruntergebrochen werden sollte, bildete die Grundlage dafür. Dafür entstand eine neue Pilotgruppe, die in mehreren Workshops eine Veranstaltung für 35 Projektteilnehmer konzipierte. Parallel dazu besuchten sie ein Zukunftsforum und ein Austauschformat einer norddeutschen Beratungsgesellschaft, um Erfahrungen auszutauschen und sich mit anderen Banken zu vernetzen. Die Veranstaltung wurde zudem um Vertreter benachbarter Banken erweitert, um gemeinsam bestimmte Themen zu bearbeiten. Die Veranstaltung wurde schließlich in einem agilen Workspace abseits des Headquarters für die 35 Mitarbeiter (mit einer cross-funktionalen Zusammensetzung) abgehalten, um die Handlungsfelder des BVR handhabbar zu machen.
Sprintwoche im Rahmen von Design Thinking
Die Teilnehmer dieser Veranstaltung wurden in zwei Teams aufgeteilt: Ein Team bereitete eine Sprintwoche in Berlin vor und das andere reiste dann dorthin. Während der fünftägigen Sprintwoche arbeiteten sie mit einer Kombination aus Scrum und Design Thinking an den Handlungsfeldern des BVR, um sie kundenorientiert mithilfe von Buyer-Personas aufzubereiten sowie mittels Backlogs und Kanban-Boards in konkrete Umsetzungsschritte zu überführen. Ein großer Vorteil dieser Methode war die sofortige Vernetzung der mehreren Handlungsfelder, da alle Beteiligten vor Ort waren und gleichzeitig an den einzelnen Teilen arbeiten konnten, sodass sie keine Schnittstellen übersehen mussten.
Die Sprintwoche konzentrierte sich auf folgende Themen:
- Kundenzentrierung,
- Eröffnung neuer Filialen rund um die Welt,
- die Zukunft des Kundenerlebnisses (KSC),
- Mitgliedschaft und digitales Mitgliedernetzwerk,
- digitale Dienstleistungen,
- Kanalsteuerung und Big Data,
- Mitarbeiter,
- Aufbauorganisation
- Führung und Kultur während Transformationsprozessen.
Geburtsstunde des „HanseLab“
Am letzten Tag der Sprintwoche wurde ein externer Dienstleister hinzugezogen, welcher zusammen mit den anwesenden Mitarbeitern ein vorläufiges visuelles Strategiebild erstellte.
Da nicht alle 35 Projektteilnehmer an der Sprintwoche in Berlin teilgenommen hatten, gab es ein gemeinsames Vernetzungstreffen nach Rückkehr in Lübeck, um alle auf denselben Wissensstand zu bringen und die nächsten Schritte zu planen. Diese Veranstaltung fand an einem einzigartigen Ort statt, nämlich in einer Fläche einer ehemaligen Spielothek, die nach 30 Jahren kurz zuvor ausgezogen war. An diesem Tag gab der Vorstand den Mitarbeitern bekannt, dass die Bank diesen Ort zu einem agilen Arbeitsbereich umbauen möchte, da die Mitarbeiter, die an der Veranstaltung in Berlin teilgenommen hatten, sich Räume wünschten, um Projekte und Themen anders anzugehen. Das war die Geburtsstunde des „HanseLab“ in Lübeck.
Kommunikation in das Gesamthaus
Doch nun zurück zum eigentlichen Prozess: Als letzter Schritt fehlte nun noch die Kommunikation in das Gesamthaus, welche wiederum in einer halbtägigen Veranstaltung nach der RTSC-Dramaturgie in einem alten Hafenschuppen durchgeführt wurde. Als Leitmotiv diente hier das inzwischen erstellte Strategiebild, zu dem u.a. von allen Mitarbeitern Feedback eingeholt wurde, um dies in die finale Version einfließen zu lassen. Bis zum heutigen Tag wird dies immer weiterentwickelt und ist fester visueller Bestandteil in der Gesamtbankstrategie.
Die Handlungsfelder wurden entweder in die klassische Projektstruktur übergeben oder agil weiterbearbeitet und schließlich in die Umsetzung bzw. die Linienverantwortung übergeben.
Gegenwärtig: Entwicklungsprogramm „Veränderungscoach“ für Führungskräfte
Während das HanseLab als bankfernes Geschäftsfeld gegründet und seit 2019 als Workspace für ein agiles Arbeiten für mittelständische Firmen zur Verfügung steht, wurden Agile Coaches in der Volksbank ausgebildet, um zukünftige Veränderungs- und Transformationsprojekte zu begleiten. Bis heute haben sich ungefähr zehn Prozent der Mitarbeiter, einschließlich der Führungskräfte, in agilen Projektmethoden fortgebildet. Der Großteil der Führungskräfte hat durch das Entwicklungsprogramm „Veränderungscoach“ die Kompetenz erworben, um Veränderungs- und Transformationsprozesse zu begleiten, und tragen dazu bei, dass die Haltung und das Mindset sich weiter in Richtung einer veränderungsfähige Organisation entwickelt.
Bis heute muss die Bank viele Themen und Herausforderungen bewältigen, einschließlich eines weiteren gescheiterten Zusammenschlusses, einem Vorstandswechsel, einer neuen Organisationsstruktur, zahlreicher Projekte zur Digitalisierung und über zwei Jahre Corona-Pandemie.
Final immer mit der Erkenntnis, dass die Transformationsreise der Volksbank niemals endet.